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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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Stunden vergangen. Unmittelbar nach einem Verbrechen tickten die Uhren anders. Es war nicht unbedingt so, dass die Zeit gegen den Kommissar arbeitete. Der Täter hatte zwar ein großes Interesse daran, den Zeiger Minute für Minute voranschreiten zu sehen und sich dadurch immer weiter von seiner Tat zu entfernen. Doch Raupach wusste das, spürte, wie genau in diesem Augenblick der Mann oder die Frau, die er suchte, ebenfalls auf die Uhr sah, ängstlich, reumütig, trotzig, hasserfüllt, verbittert, nervös? Was auch immer in ihm oder ihr vorging, in Sicherheit wiegte sich niemand nach so einem Mord. Bange Fragen hingen in der Luft: Ist mir die Polizei auf der Spur? Wie viel wissen die Bullen bereits?
    Vor Raupach lagen viele lose Enden, sie gehörten zu einem ganzen Knäuel, das er nur ansatzweise entwirrt hatte. Eines dieser losen Enden würde ihn zu dem Mörder führen. Die Zeit, die er dafür benötigte, verkürzte sich mit jedem Ticken. Betonte Lürrip, der Polizeipräsident, nicht bei jeder Gelegenheit, die ersten 48 Stunden seien ausschlaggebend für den Erfolg einer Ermittlung? Normalerweise hielt Raupach wenig von solchen Binsenweisheiten, diesmal war es anders. Er wollte sich ganz dem Fall Wintrich widmen, mit Haut und Haaren. Es sprach nichts dagegen, die 48-Stunden-Spanne voll auszuschöpfen und rund um die Uhr dranzubleiben, wie Heide ihm nahegelegt hatte, auf seinem Schreibtisch wartete nichts Dringendes. Was sollte er auch sonst machen, mit einem gähnend leeren Wochenende vor Augen? Auf Effies Geburtstagsfeier war er nicht besonders scharf, nach dem Gespräch mit Photini.
    Außerdem fühlte er sich Wintrich verbunden, diesem Pechvogel, der vor seinem Tod vielleicht nur ein oder zwei falsche Entscheidungen getroffen hatte ohne zu wissen, wie schwerwiegend sie gewesen waren.
    Er nippte an einem doppelten Espresso. Beim Zeichnen hielt er ab und zu inne und ließ seine Blicke schweifen. Viele Gäste saßen an Einzeltischen, keiner schaute hoch, wenn sich die Tür öffnete, niemand wartete, niemand wurde erwartet.
    Abends sah man immer weniger Paare. Woran mochte das liegen? Hatten sie Angst und blieben zu Hause? Angst wovor? Sich wieder zu verlieren in der großen, manchmal unüberschaubaren Stadt? Oder vor der zunehmenden Gewalt?
    In letzter Zeit gab es in Köln mehr Schlägereien als sonst, spontane Akte von Aggression, Tendenz steigend, sogar im vergleichsweise friedlichen Nippes. Wer Wut in sich trug, ließ sie immer öfter raus. Anlass dazu war reichlich vorhanden. Nicht allein die globalen Krisen, die sich in immer kürzeren Abständen ablösten, ließen die Menschen ihre Selbstbeherrschung verlieren. Es war der Eindruck, zu Spielbällen geworden zu sein bei Prozessen, die niemand mehr verstand und die vermutlich nicht mehr in den Griff zu bekommen waren, weder mit bewährten Mitteln noch mit verzweifelten. Wer sich herumgeschubst fühlte, schubste zurück, so war das, Köln bildete da keine Ausnahme.
    Schlechte Zeiten also für traute Zweisamkeit. Die Leute waren entweder in Gruppen unterwegs oder allein. Die Einzelgänger führten Selbstgespräche. Das tat Raupach noch nicht, er sah die drei, vier Jahre seines Alleinseins als vorübergehende Phase an. Als Atemholen.
    Er kannte es auch anders. Die Ehe mit Clarissa war eine Zeitlang so gelaufen, wie man sich das vorstellte: gemeinsam ins Kino oder ins Theater gehen, sich mit Freunden verabreden, am Wochenende einen Ausflug in die Eifel machen oder im Baumarkt das Laminat fürs Wohnzimmer aussuchen. Es war leicht gewesen, glücklich zu wirken. Solange man nicht darüber nachdachte, war vieles leicht.
    Bis Raupach einen Kriminellen erschossen hatte. Der Kerl hatte es zum Zeitpunkt seines vorzeitigen Ablebens fertiggebracht, ausnahmsweise keine Waffe bei sich zu tragen. Für ein paar karrieregeile Kollegen war es ein gefundenes Fressen gewesen. Laufbahnende, Eheende, Allesende. Vielleicht hatte sich Raupach nicht entschlossen genug zur Wehr gesetzt, vielleicht hatte er das Disziplinarverfahren und den Einfluss der Boulevardpresse unterschätzt, vielleicht hatte ihn die Geschichte auch einfach nur kalt erwischt. Es gab diese Punkte im Leben: Man macht weiter, als wäre nichts passiert, während ringsumher alles auseinanderbricht. Irgendwann wundert man sich, dass man inmitten rauchender Trümmer steht.
    Aber er hatte sich wieder freigeschwommen – assistiert von Photini. Sich gemeinsam gegen Widerstände durchzusetzen, hatte die beiden

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