Das geheime Kind
nicht an, wenn du was wissen willst?«, fragte Junge Nummer eins, der mutigste des Trios.
»Weil mir sonst deine ausgebeulten Hosentaschen ins Auge fallen würden«, sagte Raupach auf Verdacht. »Weil ich dich dann bitten müsste, sie auszuleeren. Weil du Gegenwehr leisten würdest, mir aber der Nerv fehlt, dich jetzt an den Haaren zu meinem Wagen zu zerren und auf der Wache in eine Arrestzelle zu befördern. Deswegen schau ich dich nicht an.« Er tat so, als wollte er den Kopf drehen. »Oder?«
»Daneben«, meinte einer der anderen. »Aber nicht uncool.«
»Mit einer Wumme unter der Jacke wär ich das auch«, sagte der Erste.
»Hab keine dabei, kann Waffen nicht leiden.« Raupach behielt die Tonart bei. Er klingelte wieder, mehrmals. »Das ist eine Privatvorstellung, extra für euch. Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen.«
»Ich glaub das nicht.«
»Probier’s aus. Bei Serienmördern funktioniert der Trick mit dem Wegschauen allerdings nicht, da hätte ich schon ein Messer zwischen den Rippen. Seid ihr Serienmörder?«
»Häh?«
»Ihr wollt doch auch mal ins Fernsehen. Ein lumpiger Polizistenmord reicht dafür aber nicht. Ihr müsst höher einsteigen, euch irgendein durchgeknalltes Muster überlegen. Zum Beispiel Bullen umnieten, die in ihrer Freizeit Jugendliche schikanieren, da hätte ich ein paar Vorschläge.«
Kurze Denkpause, dann Gelächter, entspannt.
»Gelegenheitskriminelle, da hab ich ja noch mal Glück gehabt.« Raupach wandte sich den Jungs jetzt doch zu. »Bestimmt kennt ihr euch hier aus. Ist Corinne zu Hause?«
»Sie redet nicht mit jedem«, sagte Nummer eins. »Ist ein bisschen schüchtern, man sieht sie kaum. Aber wir wohnen gar nicht in dem Haus, sondern weiter vorn.«
»Berliner Straße«, ergänzte ein anderer und zog sich strafende Blicke seiner Kumpels zu.
Raupach versuchte es ein letztes Mal und wollte schon gehen, als der Türöffner summte.
»Ausweiskontrolle«, sagte er zum Abschied. Doch die Jungs hatten inzwischen kapiert, dass er Wichtigeres zu tun hatte.
»Fick dich!«, riefen sie, nicht ganz synchron.
»Das wollte ich hören. Bewerbt euch bei der Polizei, da braucht man Sinn für Humor.« Er hoffte sehr, dass ihm keiner der Jungs mal im Präsidium gegenübersitzen würde. Dann wäre Schluss mit lustig.
»EINS ACHT FEHLT.«
»Wie?« Heides Augenbrauen bekamen etwas Eckiges. Das verhieß nichts Gutes.
»Spül mal gründlich«, sagte Doktor Baiat und fuhr fort, seiner Zahnarzthelferin zu diktieren. »Fissur auf Zwo Vier. Nach Reinigung versiegeln.«
»Was hast du gesagt?« Heide richtete sich auf.
»Bleib sitzen. Wir sind noch nicht fertig.«
»Eins acht fehlt«, wiederholte sie.
»Ja, dein Backenzahn. Oben links.« Der Doktor hielt inne. Heide war seine letzte Patientin an diesem Abend. Er hatte seine Praxis bis 22 Uhr geöffnet und behandelte vor allem Berufstätige, die sich tagsüber schlecht freinehmen konnten. Es wurden immer mehr, Bürosklaven ohne Aussicht, einen Ausfall von zwei Stunden zu rechtfertigen, nicht vor ihrem Chef und schon gar nicht vor sich selbst. Baiat könnte locker bis Mitternacht arbeiten.
»Weißt du, seit wann ich mir bei dir hier die Zeit vertreibe?«, sagte Heide mit einer Stimme, die Glas schneiden konnte. »Seit knapp zwanzig Jahren. Und jedes Mal, ich betone, jedes Mal, erzählst du was von ›Eins acht fehlt‹.«
»Das ist dein Status. Der Backenzahn –«
»Den hast du mir selbst gezogen! Vor einer halben Ewigkeit!« Die Kommissarin wurde laut. »Weil das Scheißding eine kariöse Ruine war. Hat geblutet wie ’ne Schusswunde, ich wär fast umgekippt.«
»Warum regst du dich so auf?«, wunderte sich Baiat.
Die Zahnarzthelferin witterte einen kleinen Eklat. Gesprächsstoff für später in der Kneipe.
»Ich hör mir das nicht länger an.« Heide riss sich das Spritztuch vom Hals. »Wahrscheinlich müssen auch mal wieder Röntgenbilder von meinem Kiefer gemacht werden?«
»Wäre an der Zeit.«
»Das bringt Geld, wenn dein Maschinchen in Betrieb ist.«
»Na ja …«
»Ich hab eine Waffe dabei, Tarek.« Heide tat so, als griffe sie nach ihrer neuen 10-mm-Glock. Nicht leicht zu handhaben, doch das glich die hohe Durchschlagskraft wieder aus. Seit sie von einem Mörder in einem Badezimmer eingesperrt worden war, bevorzugte sie schweres Gerät.
Der Zahnarzt versuchte es mit einem Witz. »Ich hab doch noch gar nicht gebohrt.«
»Schluss für heute.« Sie stieß die Lampe über dem Behandlungsstuhl beiseite und stand auf.
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