Das geheime Kind
schließlich ein. »Regen Sie sich ab. Das kann jedem passieren.«
Pause. Reintgen verdeckte die Sprechöffnung des Handys und bekam Hilgers’ geballten Unmut zu spüren. Was ihm einfalle, in ihrer beider Namen zu sprechen. Warum er sich so leicht reizen lasse.
Im Grunde hatte Hilgers nichts dagegen, dauernd mit Reintgen zusammengespannt zu werden. Es gab anstrengendere, weniger berechenbare Kollegen. Manche hatten alle möglichen Krankheiten, Rücken, Blutdruck, Magen, andere pflegten ihre diversen Süchte. Reintgen war erfreulich robust, ein Wind-und-Wetter-Typ. Als Beifahrer führte er sich aber schlimmer auf als Hilgers’ Frau, wenn sie samstags zum Großeinkauf in den Hürth-Park fuhren.
Die beiden stritten eine Weile. Dann: »Was sollen wir jetzt machen?«
»Ich kümmere mich um Plavotic«, sagte Photini. »Und Sie beide legen jetzt eine Pause ein. Gehen Sie was essen. Schlagen Sie sich den Bauch voll, damit Sie nicht mit einem Burn-out-Syndrom zu Jakub rennen.«
»Zu dem Seelenklempner?«
»Was sind das für Geisterwörter, Reintgen? Aus welcher Zeit stammen die?«
»Okay, wir sind schon weg. CPM.« Das hieß so viel wie Curry-Pommes-Majo. Bullenabkürzung.
Die Verbindung brach ab. Na dann, selbst ist die Frau.
Photini ging einen Block weiter zur Escher Straße, setzte sich auf einen demolierten Streukasten und rief die Taxizentrale an, bei der Plavotic arbeitete.
Sie wolle zum Bahnhof gebracht werden, aber nur von dem freundlichen Fahrer, der sie kürzlich befördert hatte, sagte sie geziert, Vorname Milan, auf den jungen Mann sei Verlass.
Es könne eine Weile dauern, bis Herr Plavotic verfügbar sei.
Sie habe es nicht eilig. Photini hinterließ ihre Nummer und die Adresse des Mietshauses, vor dem sie auf den Rückruf wartete.
Dann übte sie sich in Geduld.
Was war denn mit Reintgen los? Sie verlangte nur ein gewisses Maß an Effizienz, kein Grund, sofort an die Decke zu gehen. Manchmal kam es ihr so vor, als seien Polizisten nervöser als Kriminelle. Kaputter. Gestörter. Kriminelle konnten es sich aussuchen, wann sie ein Verbrechen begingen, vielleicht nicht immer, aber meistens, sie hatten einen Spielraum, sofern sie nicht im Affekt oder zwanghaft handelten. Polizisten mussten dagegen ständig auf der Hut sein. Aufpassen. Wachsam bleiben. Vorne und hinten Augen haben. Das machte müde. Mürbe. Dünnhäutig.
Kein Gedanke daran, wenn sie mit Patrick im Bett war. Da fühlte sie sich lebendig, voll auf Empfang, wie bei einer Art Energietransfer, neonweiß, um dem Ganzen eine Farbe zuzuordnen. Heide hatte sicher eine Erklärung dafür, koitale Sinnesvernebelung oder dergleichen.
Es war Viertel nach zehn, ein Bus der KVB glitt vorbei, von fern hörte man das Rauschen der A 57. Keine Leute auf der Straße, jede Menge dunkler Flecke zwischen den Straßenlaternen. Aus einer Erdgeschosswohnung quoll der Geräuschebrei eines zu laut gestellten Fernsehers.
Photini betrachtete eine beleuchtete Plakatwand auf der anderen Straßenseite. Ein Mann, der aussah wie der Klon eines prominenten Tagesschausprechers, pries irgendwelche Geldanlageformen an. Mit solchen Typen hatte sie sich getroffen, bevor Patrick aufgetaucht war. Sie waren zehn Jahre älter als auf den Fotos gewesen und durchschaubar wie eine Frischhaltefolie. Alibi-Manieren, kein Trinkgeld für den Barmann, die Druckstelle des Eherings am Ringfinger. Photini hatte ihren Mojito oder Long Island Ice Tea – warum eigentlich immer Cocktails? – nach ein, zwei Schlucken stehenlassen und war wortlos gegangen.
Sie rief das Gute von vorhin herbei, das Kribbeln am ganzen Körper, bestimmte Berührungen. Miniwellen, die sich nach und nach aufschaukelten, zu einer unaufhaltsamen Woge wurden. Und dann diese seltsame Orgasmusphantasie: die Veranda eines Holzhauses an der Küste, Gischtspritzer fegten über die ausgebleichten Planken. Zuvor hatte sie bei solchen Gelegenheiten nur Farben im Kopf gehabt, rot und schwarz. Diesmal waren es konkrete Bilder. Ein Sehnsuchtsort? Wo sie mit Patrick, dem Surfer, allein sein konnte? Sie wurde daraus nicht schlau.
Ihr Handy klingelte. Das Taxi sei gleich da.
Na bitte. Manchmal war dieser Beruf so einfach wie das Brötchenbacken. Sie holte eine Packung Kaugummis aus ihrer Jacke und steckte sich einen in den Mund.
Hoffentlich hatte Klemens am Telefon nicht gemerkt, dass sie mit Patrick zusammen gewesen war. Sie wollte ihn nicht noch zusätzlich vor den Kopf stoßen. Oder waren das Schuldgefühle, weil sie sich mit
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