Das geheime Kind
meinte der kleine Mann, über dessen Schreibtisch die gesamte Forensik der Kölner Mordkommission lief. Mit 67 Jahren war Roswitha Hattebier deutlich älter als ihr Gatte, untergebracht in einem sündhaft teuren Pflegeheim, mit Blick auf den Rhein. Jedes vorüberfahrende Schiff war für sie neu, doch das ging den meisten Menschen ähnlich.
Eine enorme Aggression und/oder ein starker Arm habe diesen Hieb geführt, sagte Hattebier und wies auf die tiefen Rillen im Schädeldach. Der Täter habe mehrmals zugeschlagen. Erst der dritte Versuch habe die gewünschte Wirkung gezeigt und das Schädeldach wie einen Kürbis in der Mitte gespalten, an einer empfindlichen Stelle, wo die Knochennähte von Stirnbein, rechtem und linkem Scheitelbein aufeinandertreffen. Die beiden anderen Hiebe, bei denen das Spatenblatt abgeglitten war, lagen in auffälliger Nähe zur tödlichen Wunde. Laut Obduktionsbericht trug Wintrichs Leiche keine Spuren einer vorangegangenen Körperverletzung, keine Blutergüsse, nichts dergleichen. Eine Schlägerbande schiede also aus.
Vielleicht habe der Täter vorher geübt, schlug Raupach vor. Grausamkeit bedürfe eines gewissen Vorlaufs.
Hattebier schloss das Bildschirmfenster und wandte sich wieder einem Auftragsmord aus dem Jahre 1985 zu, längst aufgeklärt, doch virtuos durchgeführt, die Kugel war von einer Edelstahlverkleidung abgeprallt und hatte das Schädeldach über Bande durchschlagen, Billardeffekt. Die neuralgische Stelle war exakt die gleiche wie bei Otto Wintrich. Sie zu kennen, gehöre zum kleinen Einmaleins eines Scharfschützen.
Der Kommissar wartete auf den Zusammenhang.
Bei drei dicht nebeneinanderliegenden Schlägen könne man Zufall und Affekt ausschließen, schloss Hattebier. Wintrichs Mörder war entweder mit dem Bewegungsablauf vertraut, wie ein Handwerker oder jemand, der häufig Holz spaltet. Oder er besaß genaue anatomische Kenntnisse.
Er vergrößerte das deformierte Projektil von 1985 und versah die Computerdarstellung mit Markierungen. Hattebiers Interesse an Verbrechen der Gegenwart hielt immer nur so lange vor, wie es der Beruf erforderte.
Wie lange er noch machen wolle, fragte Raupach. Die Anzeige auf dem Bildschirm zeigte 0.05 Uhr.
Bis er müde werde, gab Hattebier zurück und wies auf das zusammengeklappte Feldbett, das in seinem Büro für solche Fälle bereitstand. Seit Roswitha krank geworden war, flüchtete er aus seinem schicken 60er-Jahre-Bungalow in Raderthal und verbrachte die Nächte gelegentlich im Präsidium. Regeneration sei ein Mythos, meinte er und hielt es mit Napoleon: vier Stunden schlafe der Mann, fünf die Frau und sechs ein Idiot.
Raupach nahm sich vor, eine Liste anzulegen, welche seiner Mitarbeiter bei Tag und welche bei Nacht zu gebrauchen waren. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Photini zum Beispiel tickte tagsüber mit der Beharrlichkeit eines Sekundenzeigers, ebenso Höttges und Effie. Heide war nützlich im Dunkeln, dann dominierte ihr Feingefühl über ihre Besessenheit. Reintgen war zu jeder Tageszeit beschränkt und in den Abendstunden sogar eine Gefahr für die Menschheit.
Er borgte sich von Hattebier ein frisches Oberhemd. Der Leiter der Spurensicherung besaß einen entsprechenden Vorrat an Herrengarderobe, um seinen einsamen Posten nicht verlassen zu müssen. Es war dunkelrot-weiß gestreift, mit Monogramm. In Verbindung mit seinem dunkelblauen Anzug sah Raupach damit aus wie ein verarmter Antiquitätenhändler. Er zog seinen Mantel über, begab sich zum nächsten Taxistand und ließ sich nach Holweide bringen, dem Viertel, in dem Plavotic wohnte.
Der Fahrer kannte den jungen Kollegen nur vom Hörensagen. Plavotic sei nicht besonders kontaktfreudig gewesen, habe allein in seinem Wagen Pause gemacht, sich abgesondert. Der Konkurrenzkampf unter den Taxifahrern sei schärfer geworden. Um Geld zu sparen, nähmen immer mehr Leute die Bahn oder das Rad.
Draußen zog die rechte Rheinseite vorbei, die »Schäl Sick«, wie sie abwertend hieß. In Köln pflegte man solche Vorurteile ausdauernder als die wenigen, nach dem letzten Weltkrieg verbliebenen Sehenswürdigkeiten. Wenn der Dom von Terroristen in die Luft gejagt würde, konnte man immer noch auf die »Schäl Sick« oder gleich auf Düsseldorf schimpfen. Das beruhigte.
In der Dunkelheit war kein Unterschied festzustellen zwischen den Rheinseiten. Durch das Fenster des Taxis sah die Stadt aus wie immer, zusammengewürfelte Blocks, unmotivierte Brachen und ab und zu
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