Das geheime Kind
draußen stand.
Die Leute starrten entweder die Farbe aus der Glotze oder sie machten Videospiele, dritter Weltkrieg im Wohnzimmer. Die Polizeishow hatte tagsüber für Abwechslung gesorgt. Nachdem die Bullerei abgezogen war, kehrte sich der Blick wieder in die eigenen vier Wände. Auf kinotauglichen Plasmabildschirmen schien die Bandbreite menschlicher Abscheulichkeiten greifbarer zu sein. Richtiges Leben und Sterben trug sich gedämpft, gleichsam im Nebenzimmer zu, dachte Raupach. Früher hatten die Leute den Fernseher abgeschaltet, wenn die Polizei bei ihnen vor der Tür stand. Inzwischen drehten sie ihn lauter.
Er löste die Absperrungen und näherte sich dem Gartenhaus. Der große Kirschbaum hob sich als dunkle Masse ab. Am Himmel stand ein Halbmond, die akkurat geschnittene Scheibe sah unnatürlich aus, wie ein Symbol auf einer Computertastatur.
Was der Mörder jetzt wohl machte? Schlafen? Träumen, dass seine Tat gar nicht geschehen war? Vielleicht sah er einfach nur fern wie all die anderen.
Effies Team hatte die Beete umgegraben und die Gehweg- und Terrassenplatten aufgestemmt, auf der Suche nach einem möglichen Versteck. Raupach ließ sich auf den Stufen nieder, die zur Terrasse hochführten. Er genoss die Nachtluft, trank sie regelrecht. Manche Gewächse entfalten ihren Duft erst nach Sonnenuntergang. Irgendwo zersetzten sich Pilze.
Besinnlich wie auf dem Friedhof, fand er, dort war auch nichts zu hören vom Spätprogramm, und die Nachbarn verhielten sich in der Regel unauffällig. All die Pflanzen, was für ein Luxus mitten in der Stadt. Man fühlte sich der Erde näher und zugleich ein kleines Stück von den Menschen entfernt – um seinen Trieben freien Lauf zu lassen?
Der Mörder hatte keine eigens mitgebrachte Waffe benutzt. Er hatte genommen, was gerade zur Hand gewesen war. Nicht unbedingt im Affekt, wie Hattebier meinte, möglicherweise hatte er genau gewusst, wo der Spaten hing. Jeder Freiraum, und sei es nur diese Parzelle, barg alles, um der Freiheit eines anderen für immer ein Ende zu setzen, seinem Wissen, seinen Bindungen, seinen Plänen. Mit drei Spatenhieben war hier Lebenszeit gelöscht worden, Zeit, in der das Opfer irgendetwas getan oder gedacht hatte, was dem Täter missfallen war.
Raupach kannte nur einen winzigen Ausschnitt von Otto Wintrichs Leben, und selbst den nur in Bruchstücken. Was verband ihn mit Milan? Alles war denkbar, lange zurückreichende Verletzungen oder eine Zufallsbekanntschaft. Vielleicht hatte der Junge bei dem Mord nur zugesehen, billigend als Mittäter, oder unwillentlich, als Zeuge von Handgreiflichkeiten, die gar nicht ihn betrafen. Und wegen seiner Dealerei hatte er der Polizei gegenüber dichtgehalten.
Der Kommissar war an einem Punkt angelangt, an dem es ihm schwerfiel, den Stein weiterzurollen. Vielleicht sollte er auf Papierkugeln umsteigen. Oder Laub zusammenrechen, davon gab es hier jede Menge.
Ein Arm schlang sich von hinten um seine Brust.
Der Mündungsring einer schweren Pistole bohrte sich in seine Schläfe.
Er kannte den Geruch. Gealterte Ängste, viel Stahl, zwei bis drei Kölsch und immer etwas Süßes in der Tasche. Aber da war noch etwas anderes.
»Was ist das für ein Parfüm?«
»Grüntee«, sagte Heide, ohne ihn loszulassen.
»Neu?«
»Scheiße, bist du das, Klemens?«
»Hast du den Mörder erwartet?«
DIE GLOCK WURDE ENTSICHERT und verschwand. Der Arm blieb liegen.
»Ich warte immer auf irgendetwas, Heide. Das weißt du doch.«
Sie tastete ihn ab, blieb hinter ihm in der Hocke sitzen. »Du hast nichts zum Schießen dabei? Um diese Zeit?«
»Brauch ich das?«
»Hast du’s immer noch nicht kapiert? Das ist ein Dschungel, schau dich doch um!« Weit davon entfernt, sich zu entspannen, wies sie auf das im Dunkeln liegende Pflanzenwerk. »Die ganze Stadt ist so. Die wuchert immer mehr zu, in Köln gibt’s tausend Ecken wie diese. Von wegen Betonwüste, das wäre ideal, so was könnten wir mit gepanzerten Mannschaftswagen überwachen. Das Problem sind diese kleinen grünen Flecken, verkehrsberuhigt, autofrei. Sieht alles harmlos aus, aber wenn ich ein Psychopath wäre, würde ich hier meine Entführungsopfer einsperren, ich würde sie hier verstecken und zu Tode quälen oder jahrelang misshandeln, ich würde sie hier vor eine Webcam setzen und langsam verhungern lassen. Weil es keinem auffällt! Wir befinden uns in No-Go-Areas und wissen es nicht, Klemens! Das gehört alles plattgemacht.«
Er ließ Heide wieder zu
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