Das geheime Kind
Atem kommen. Ausbrüche wie dieser häuften sich bei ihr in letzter Zeit. Sie wurde immer radikaler und auf eine Art paranoid, mit der sie Verbrechen regelrecht heraufbeschwor. Andererseits kam dabei etwas Ungefiltertes zum Vorschein, von dem sich Raupach angezogen fühlte.
Im Laufe der vergangenen zwölf Jahre war Heide durch die Polizeiarbeit berechenbarer und ein bisschen nachgiebiger geworden. Eine Affäre mit einem Kollegen, der in Wahrheit ein Serienkiller gewesen war, hatte sie vollends aus der Bahn geworfen. Aber jetzt besaß sie wieder Kraft für zwei, wie damals, als sie 36 und er 30 gewesen war.
»Die Nacht ist wunderschön.« Raupach drehte sich zu ihr um. Er hatte etwas übrig für Nostalgie. »Warum genießen wir sie nicht?«
»Du denkst, ich mein es nicht ernst.«
»Du hast einen Lagerkoller. Der Innendienst bekommt dir nicht, zumindest was deine Ansichten zu Grünanlagen betrifft.«
Sie lachte schallend und machte sich dadurch Mut für den nächsten, entscheidenden Schritt. »Genau. Ich halte es nicht mehr aus. Irgendwas muss sich grundlegend ändern.«
»Und deswegen bist du heute Nacht hergekommen?«
»Eigentlich will ich gar kein Bulle mehr sein. Ich will noch einen letzten Fall lösen, dann nehme ich meinen Abschied.« Sie hielt inne. »Ich kündige.«
Jetzt war es raus. Warum jetzt? Weiß der Teufel, was sie dazu gebracht hatte, Raupachs aufreizende Gelassenheit? Eigentlich hatte sie gehofft, den Mörder zu stellen, wie er an den Tatort zurückkehrte. Oder irgendwelche anderen Kriminellen, die sich in der Heckenrose herumtrieben.
Sie kauerte sich hinter ihn auf die oberste Stufe und legte ihm die Hand auf die Schulter zum Zeichen, dass er vor ihr sitzen bleiben sollte. Er schaute nach vorn und sagte nichts.
»Na, keine Reaktion?«, fragte sie. »Hältst du es bloß für eine Laune?«
»Um ehrlich zu sein, habe ich so was geahnt. Dich im Innendienst an die Kette zu legen, hat das Ganze nur beschleunigt, stimmt’s?«
»Man darf sich nichts vormachen.«
»Ich kann nicht beurteilen, was gut für dich ist, Heide.«
»Ist das alles?«
»Du wirst schwer zu ersetzen sein.«
»Keine Anbiederei! Jede Lücke lässt sich füllen.«
»Es eröffnen sich auch neue Möglichkeiten«, sagte Raupach gedehnt.
»Bittest du mich nicht, noch mal drüber nachzudenken?«
»Von mir aus, denk nach, solange du willst. Ich könnte dir auch eine Versetzung anbieten, Übergangslösungen, eine Auszeit, Rückkehroptionen, du kennst die Palette. Lürrip wird dich noch lange genug bequatschen.«
»Du hast die Dinge immer erst mal hingenommen und sie später bedauert.« Heide sah es bildlich vor sich, wie sie dem jungen Raupach einst klargemacht hatte, dass noch andere Erfahrungen auf sie warteten. Natürlich war sie es gewesen, die ihre Beziehung nach drei Monaten beendet hatte. Er war nicht der Typ für Schlussstriche. »Tja, im Brücken verbrennen war ich wohl schon immer gut«, setzte sie hinzu.
»Nennen wir es lieber eine Erschütterung. Manches wird dadurch einfacher. Zwischen uns zum Beispiel.«
Sie schwiegen eine Weile und saßen immer noch hintereinander auf den Stufen. Eine löchrige Wolkendecke schob sich vor den Halbmond. Seltsamerweise verstärkte sich dadurch das Licht, es überzog alles mit einem milchigen Film.
Heide war irritiert, weil Raupach ihre Kündigung nicht als Überspanntheit abtat oder mit einem provozierenden Witz beantwortete. Stattdessen gab er sich verständnisvoll. »Findest du die Nacht immer noch schön?«
»Sie wird immer besser.«
Was sollte das nun wieder heißen? Klang ja geradezu heiter, als ginge er davon aus, dass sie einen Witz machte. »Denkst du, ich bin betrunken?«, argwöhnte sie.
»Seit wann trübt Alkohol deine Entschlussfähigkeit?«
»Ich hab nur ein paar Kölsch intus, die übliche Freitagabenddosis. Keine harten Sachen.«
»Ich würde dir ja gern was anbieten, zur Feier des Tages«, sagte Raupach. »Aber ich hab nichts dabei. Bin schlecht ausgestattet für die Wechselfälle des Lebens.«
»Willst du auf meine Kündigung anstoßen? Dass du mich endlich los bist?«
»Wenn man den gleichen Gedanken hat, soll man zusammen drauf trinken, das bringt Glück. Also bitte, ich habe heute ebenfalls über eine berufliche Veränderung nachgedacht.«
»Du willst die Brocken hinschmeißen?« Heide konnte es nicht fassen.
»Nicht ganz. Ich könnte nie allein arbeiten, nicht auf Dauer. Nur permanent den Chef zu markieren, darauf kann ich verzichten.«
»Möchtest
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