Das geheime Leben der CeeCee Wilkes
es gefällt dir hier doch, Evie. Uns beiden gefällt es.”
“Ich dachte an eine Stadt, wo die medizinische Versorgung besser ist”, behauptete sie. “Ich weiß, das ist egoistisch.” Sie spielte mit seinen Schuldgefühlen, das war ihr klar.
“Ich dachte, du bist zufrieden mit deinen Ärzten”, sagte er. “Und hier gibt es eine Uniklinik.”
“Ich weiß.”
“Wenn du glaubst, dass du woanders eine bessere Behandlung bekommst, dann fahren wir dorthin. Die Mädchen können solange bei Lorraine und Bobbie bleiben.”
Eve blickte durchs Wohnzimmerfenster nach draußen. Sie zogen die Vorhänge niemals zu, aber mit einem Mal fühlte sie sich ungeschützt, als ob Irving Russell höchstpersönlich in der Dunkelheit stehen und sie anstarren würde.
“Ich habe hier eine Anstellung auf Lebenszeit, Eve”, erklärte Jack, als ob sie das jemals vergessen könnte. “Und dir macht deine Arbeit Spaß. Zumindest habe ich das immer geglaubt.”
“Das stimmt auch.”
“Ach so.” Er schien mit einem Mal zu wissen, woher der Wind wehte. Er berührte ihre Lippen mit einem Finger. “Du willst also nach Chapel Hill ziehen, um in Corys Nähe zu sein.”
Sie lächelte verlegen. Wie sehr er sich doch täuschte. Chapel Hill war der allerletzte Ort dieser Welt, an dem sie leben wollte, aber er sollte das ruhig glauben. Es gab keinen besseren Ausweg aus diesem Gespräch, das sie niemals hätte anfangen dürfen.
“Ertappt”, sagte sie. “Es fällt mir sehr schwer, sie gehen zu lassen.”
“Sie kommt ja zurück.” Jack rollte sich zur Seite und drückte seinen Kopf an ihren Bauch. Er schien erleichtert, dass das Problem so schnell gelöst war. “Sie kommen immer zurück.”
Ende August fuhren Eve, Jack und die zehnjährige Dru zusammen mit Cory nach Chapel Hill. Eve kam sich vor wie in einem Traum, in dem alles wie früher und doch ganz anders war. Die Franklin Street hatte sich verändert, es gab neue Geschäfte und Restaurants. Aus dem Coffeeshop, in dem sie mit Ronnie gearbeitet hatte, war eine Boutique geworden. Die Studenten waren im selben Alter wie damals und sie erinnerte sich noch gut an das erregende Gefühl bei der Vorstellung, eines Tages zu ihnen zu gehören. Sie ertappte sich dabei, wie sie nach Ronnie Ausschau hielt. Ständig befürchtete sie, jemandem zu begegnen, der sich an sie erinnerte. Selbst im Studentenheim vermied sie es, auf andere Eltern zu treffen.
Sie half Cory beim Auspacken und unterhielt sich mit Corys Zimmergenossin, einem Mädchen namens Maggie – als Abkürzung für Magnolia – mit pechschwarzem Haar und einem Zungenpiercing. Eve wusste nicht, was ihr denn lieber wäre: dass die beiden Mädchen sich gut verstanden oder nicht.
Cory allein zurückzulassen war furchtbar. Für sie war Cory noch immer das kleine Mädchen mit den blau-weiß gestreiften Turnschuhen, das am ersten Schultag laut nach seiner Mutter schrie, während die Klassentür zwischen ihnen zufiel.
Jack begann auf der Rückfahrt laut zu singen, damit Eve nicht in Tränen ausbrach. Was sie aus Rücksicht auf Dru auch nicht tat.
Als sie schließlich zu Hause ankamen, wartete bereits eine E-Mail von Cory auf sie.
Bitte ruf mich an, wenn ihr gut angekommen seid.
Eve starrte die Worte an. Wie viele Studenten schrieben wohl so etwas an ihre Eltern?
Wir sind gut angekommen, Liebes
, antwortete sie.
Dad hat uns dazu gebracht, die ganze Zeit zu singen. Ich hoffe, es geht dir gut. Lass mich wissen, wie du mit Maggie zurechtkommst. Alles Liebe, Mom.
Und sie hatte noch eine E-Mail bekommen, von jemandem namens Barko. Als Betreff stand schlicht: Eve.
Liebe Eve
,
ein Freund von N und F braucht Hilfe, um von vorne anfangen zu können. Wenn du helfen kannst, antworte. Wenn nicht, Friede.
Sie starrte die Nachricht lange an, erst verwirrt, dann voller Angst. Schließlich drückte sie die Entfernen-Taste.
40. KAPITEL
D er erste Mensch, dem Eve im neuen Semester an der Universität begegnete, war Irving Russell.
Sie fiel ihm regelrecht in die Arme, als sie über eine Büchertasche stolperte, die jemand mitten in den Weg gestellt hatte. Er fing sie auf.
“Entschuldigen Sie”, murmelte Eve nervös. “Tut mir leid.”
Er lächelte, und hinter diesem Lächeln glaubte sie ein Leben voller Schmerz und Angst und schlafloser Nächte zu erkennen.
“Und mein Name ist Irving Russell.” Er streckte ihr eine Hand hin. Normalerweise reichte sie ihre weniger schmerzende linke Hand zur Begrüßung, doch sie war so durcheinander, dass
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