Das geheime Lied: Roman (German Edition)
gequältes Lächeln zu, bevor er die Straße in Richtung Markt entlangeilte.
5
S obald er um die Ecke gebogen war, begann er zu rennen. Er wollte seinen Bruder so schnell wie möglich sehen, aber vor allem wollte er Nathalie hinter sich lassen, ihr perfektes Gesicht und die Qual, sich im Leben für einen Weg entscheiden zu müssen. Auf halber Strecke verhinderte eine Prozession sein Vorwärtskommen. Neue Gemeinden schossen in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden, Paris war ein rostiger Acker voller Kreuze. Also schlug er einen anderen Weg im Labyrinth der Gässchen ein und erreichte bald Saint-Barthélemy. Er kannte jeden Winkel dieser Stadt, die sich, wie er stets mit ebenso viel Dreistigkeit wie Überzeugung behauptete, bald seiner Musik ergeben würde.
Er überquerte die Cité und näherte sich dem Seine-Ufer. Der Fluss teilte die Stadt und schmückte sie mit den Booten, die sich wie die Perlen eines Rosenkranzes auf seinem trüben Wasser aneinanderreihten. Er kam an der Saint-Michel-Brücke vorbei, die in sanften Nebel gehüllt war, blieb aber nicht stehen, um der Vorstellung eines Messerwerfers zuzusehen, der seine Klingen direkt neben dem sommersprossigen Gesicht eines kleinen Mädchens einschlagen ließ. Matthieu umrundete die Menschenmenge, die sich um einen Rekrutierungsoffizier scharte, und wagte sich am Neumarkt ins Getümmel. Während er sich seinen Weg bahnte, stieg ihm der Gestank von Verwesung in die Nase. Am Boden vermischten sich Innereien mit Stroh und schwärzlichem Schlamm, und es bildete sich eine faulige Masse. Er machte einen Satz zur Seite, um nicht von einem der Fässer getroffen zu werden, die Lastenträger unter großer Anstrengung eine Steintreppe hochgehievt hatten und nun hinunterrollen ließen.
Er machte sich direkt auf zu Jean-Claude in die Schänke. Als er die Tür aufstieß, trafen ihn der Rauch verbrannten Fleisches und der Dampf gekochten Gemüses mit voller Wucht. Er wedelte mit der Hand, um in dem Dunst überhaupt etwas sehen zu können. Jean-Claude saß im hinteren Teil des Gasthofs allein an einem Tisch, auf dem ein hölzerner Becher stand. Äußerlich konnten die beiden Brüder unterschiedlicher kaum sein. Matthieu war dunkel und drahtig, Jean-Claude hingegen blond wie ein Junge aus Flandern mit heller Haut und eher zu dünn. Auf seine Weise war aber auch er ein attraktiver Mann. Beide umgab eine Art Leuchten, die Aura, die große Selbstsicherheit verleiht. Matthieu ließ sich ihm gegenüber nieder und nahm gierig einen Schluck aus dem Becher.
»Ich hoffe wirklich, dass es um etwas Wichtiges geht«, begann er, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte.
»Was soll denn das heißen?«, maulte Jean-Claude.
»Ich bin in Eile. Ich habe unserem Vater versprochen, gleich noch im Parlament vorbeizuschauen.«
»Muss das unbedingt heute sein?«
»Er möchte, dass ich den Leiter des Archivs kennenlerne. Ich sollte schon längst da sein.«
»Unser armer Vater glaubt also immer noch, er könne dich dem Künstlerleben entreißen und aus dir einen rechtschaffenen Schreiber machen«, stellte Jean-Claude fest, während die Kellnerin seinen Becher wieder füllte.
»In der dritten Generation«, spöttelte Matthieu.
»Er weiß genau, dass bei dir Hopfen und Malz verloren ist, wie bei mir auch, aber er wird seinen ganz persönlichen Kreuzzug niemals aufgeben. Und du denkst weiterhin, dass du ihm etwas schuldig bist.«
»Jean-Claude, nicht schon wieder …«
»Aber ein bisschen kann er doch noch warten, oder? Du wirst nicht glauben, was du gleich zu sehen bekommst, das kann ich dir versichern!«, verkündete er. Sein Tonfall war jetzt ein ganz anderer, und er riss dramatisch die Augen auf. »Warum kommst du denn so spät? Hast du dich etwa mit Nathalie getroffen?«
»Nein«, antwortete Matthieu, ohne zu zögern. »Na ja, um ehrlich zu sein, bin ich ihr über den Weg gelaufen, als ich aus der Kirche kam, aber wir haben kaum ein paar Worte gewechselt.«
Jean-Claude runzelte die Stirn. »Du verdammter Narr, du brichst ihr noch das Herz.«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du mir lauter Vorwürfe machst, wäre ich gar nicht gekommen.«
»Dabei denke ich doch nur an dich. Wenn Le Nôtre herausfindet, dass seine Nichte in einen bürgerlichen Musiker verliebt ist und dazu noch in einen, der sich den Luxus erlaubt, sie abzuweisen, dann wird er dich mitten in einem seiner Gärten pfählen lassen.«
»Jean-Claude …«
Sein Bruder wurde ernst.
»Ihr seid nicht einfach nur
Weitere Kostenlose Bücher