Das geheime Lied: Roman (German Edition)
heißen?«
Jean-Claude sah sich nervös nach beiden Seiten um.
»Lass uns von hier verschwinden.«
Matthieu wurde klar, dass er viel zu durcheinander war, um Angst zu verspüren.
»Und wer sind diese Männer? Kennst du sie?«
»Wir sehen uns heute Abend in der Werkstatt von San Giacomo.«
»Beim Geigenbauer?«
»Dort wirst du alles verstehen. Und jetzt lauf!«
»Aber, Jean-Claude, sag mir doch bitte eines: Bist du in Gefahr?«
»Geh zu der Verabredung mit unserem Vater und tu so, als sei nichts vorgefallen. Los jetzt! Wenn die uns hier finden …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende und begann, auf den kleinen Platz zuzulaufen. »Und vergiss unser Treffen nachher nicht!«
Er verschwand in der Menge. Und wieder hatte Matthieu das Gefühl, dass sich ihm auf dem Markt alle Gesichter zuwandten, um ihn anzustieren. Mit hängendem Kopf machte er einige unsichere erste Schritte, bevor dann auch er losrannte, und zwar in Richtung Parlament.
6
W ährend der Unterhaltung im Arbeitszimmer des Archivars wirkte Matthieu die ganze Zeit abwesend. Der Schreiber beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er wusste, dass sein Sohn sich nicht im Geringsten für die Lehrstelle interessierte, die man ihm hier anbot, aber er würde trotzdem nicht aufgeben und stets weiter versuchen, ihm eine sichere Stellung zu verschaffen. Er glaubte nicht, dass der Junge ein Genie war, wie Charpentier behauptete. Oder vielleicht wollte er es auch einfach nicht wahrhaben. Matthieu war ein besserer Musiker als Jean-Claude, doch sein Vater befürchtete, dass er nach zu Großem strebte und umso tiefer fallen würde. Dennoch wunderte es ihn, dass der Bursche sich jetzt so unangemessen benahm. Er konnte ja nicht wissen, dass im Kopf seines Sohnes die obskuren Worte Jean-Claudes herumspukten, dass das Blut von Dr. Evans seine Gedanken verdunkelte.
Nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, begleitete der Archivar sie durch den von Marmorsäulen flankierten Gang bis zum Ausgang. Am Tor zur Straße roch es nach Regen.
»Falls Ihr noch Fragen oder Zweifel habt, stehe ich Euch jederzeit zur Verfügung«, sagte der Mann ohne große Überzeugung.
Matthieu verabschiedete sich gerade mit einer angedeuteten Kopfbewegung, als er auf einmal bemerkte, dass auf dem Platz vor der Tür des Parlaments etwas vor sich ging. Es gab einen Menschenauflauf, und alle redeten laut durcheinander. Zwei Frauen schlugen die Hände vors Gesicht. Sie faselten Unzusammenhängendes über einen Überfall, der sich ein paar Straßen weiter ereignet hatte. »Es war schrecklich«, sagte ein alter Mann, der einen leeren Krug schwenkte. Nach einer abrupten Drehung kam eine Kutsche vor ihnen zum Stehen. Der Fahrgast, ein Mann mittleren Alters, trug einen braunen Kapuzenmantel mit Kaninchenfellborte, den er ausschüttelte, um ihn vom aufgewirbelten Staub zu säubern.
»Furchtbar, ganz furchtbar …«, sagte er zu einem Passanten.
Matthieu und sein Vater traten näher, um sich in die Unterhaltung einzumischen.
»Was ist denn nur passiert?«
»Ein junger Mann – man hat ihm die Finger abgeschnitten und in den Mund gestopft.«
»Um Gottes willen!«, rief der Schreiber aus.
»Und das ist noch nicht alles«, fügte der Herr wichtigtuerisch hinzu. »Sie haben ihm einen Geigenbogen durch den Hals gestoßen!«
Mit übertriebener Geste ahmte er die brutale Tat nach.
»Das ist doch nicht möglich …«
»Der Junge liegt vor der Saint-Louis-Kirche im Sterben, und …« Der Mann musste schlucken. »Was für ein Anblick. Als ob es das Werk des leibhaftigen Teufels wäre.«
Matthieu presste die Lippen immer fester aufeinander.
»Der Teufel treibt sich nicht mitten am Tag in den Straßen von Paris herum«, erwiderte der Schreiber empört. »Hat man die Täter denn schon gefasst?«
»Es ist wirklich unglaublich, aber es hat wohl niemand gesehen, wie es passiert ist. Diese Stadt geht vor die Hunde. König Louis ist nur daran interessiert, neue Länder zu erobern, und vergisst darüber, wie sein eigenes Volk leidet. Das Chaos greift um sich, und niemand unternimmt etwas dagegen. Die Einwohner von Paris könnten sich alle die Pest holen, und der Herrscher würde es nicht einmal bemerken.«
»Ist das Opfer … tot?«, fragte Matthieu mit verzerrtem Gesichtsausdruck.
»Inzwischen vielleicht schon, und andernfalls wird er auch nicht mehr lange durchhalten. Es war ein eher zarter Jüngling.«
»Jean-Claude …«
»Was sagst du, mein Junge?«
»Er ist es, Vater. Es ist Jean-Claude«, schrie
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