Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Finger an sein Gesicht. Sie strich behutsam über das sanft gewellte Haar, das ihm auf die Schultern fiel. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, dessen Blässe sie nicht dem Puder, sondern der durchscheinenden Zartheit ihrer Haut verdankte.
Jedes Mal, wenn er sie sah, verspürte Matthieu etwas ganz Besonderes. Abgesehen einmal von Jean-Claude hatte er mit ihr viel mehr gemeinsam als mit jedem anderen Menschen. Nathalie war ein Waisenkind wie er, und auch sie war von einer Familie aufgenommen worden, die sie liebte. Auf der Rückfahrt von einer Landpartie waren ihre Eltern bei einem Überfall auf ihre Kutsche ums Leben gekommen, und es war ihr Onkel André Le Nôtre gewesen, der sich ihrer mit all der besonderen Liebe und Fürsorge angenommen hatte, die sie wegen ihrer Blindheit benötigte. Le Nôtre war viel mehr als nur der Künstler, der mit seinen Entwürfen der königlichen Gärten den Sumpf Versailles in ein echtes Paradies verwandelt hatte. Er hatte sich auch die wahre freundschaftliche Zuneigung des Herrschers erworben, weil er die einzige Person im ganzen Hofstaat war, die sich ihm gegenüber nicht schmeichlerisch zeigte. Daher sah sich Nathalie nach ihrer schweren Kindheit nun mit einem bequemen Dasein entschädigt, einem Leben voller Theaterbesuche und Konzerte, bei denen jeder dem Künstler des Spatens und der Heckenschere, wie Le Nôtre sich selbst voll verblüffender Bescheidenheit nannte, Respekt und Anerkennung zollte.
Wenn Nathalie das Haus verließ, leistete ihr dabei stets Isabelle Gesellschaft, eine vollbusige junge Brünette, die ihr während der Spaziergänge durch Paris ihre Augen lieh. Ihre Vorgängerinnen waren stets Damen fortgeschrittenen Alters gewesen, die Nathalie geschickt in verschiedenen Künsten und Wissenschaften zu unterrichten wussten, für die das junge Mädchen aber keine Zuneigung empfunden hatte. Le Nôtre hatte die Traurigkeit bemerkt, die Schatten auf die schönen Züge seiner Nichte warf, und ganz richtig vermutet, dass ihr einfach eine Vertraute zum Reden fehlte. Er hätte kaum eine bessere Wahl treffen können, Isabelle war ihr vom ersten Tag an eine wahre Freundin gewesen.
Tatsächlich hatte Matthieu Nathalie bereits zwei Jahre zuvor durch ihre Begleiterin kennengelernt. Zwei Jahre, die schönsten seines Lebens … Die kokette Gesellschafterin war in demselben Viertel geboren, in dem die Familie des Schreibers lebte, und sie war immer in Jean-Claude verliebt gewesen. Seit sie den Posten im Hause des Landschaftsgärtners Le Nôtre angetreten hatte und seiner Nichte eine ständige Begleiterin war, hatte sie daher damit begonnen, Nathalie zur Saint-Louis-Kirche mitzunehmen, wo man häufig auf die beiden Brüder traf, um ihrem Augenstern nahe zu sein. Die vier waren enge Freunde geworden.
Die bürgerliche Isabelle versuchte vergebens, Jean-Claude für sich zu gewinnen, während sich zwischen der adligen Nathalie und Matthieu eine fast mystische Verbindung entwickelte. Nathalie erklärte, dass sie in dem Moment, als sie die Stimme des Musikers zum ersten Mal gehört hatte, sehen konnte, dass sie jedes Wort wie Formen vor sich erblickte, die in der Luft miteinander verschmolzen, in ersonnenen Farben, die explodierten wie die Bilder in einem Kaleidoskop.
Matthieu hatte sie nur ein einziges Mal geküsst, ein paar Wochen nach ihrem Kennenlernen. Es war in der kleinen Gasse nahe der Kirche passiert, wo sie vor Blicken geschützt gemeinsam auf und ab zu spazieren pflegten. Dort hatten ihre Lippen sich verstohlen neben dem Laden des Zuckerbäckers gefunden, dessen süße Ware sich auf ihren Mündern wiederzufinden schien. Es war nie wieder vorgekommen, aber seitdem hatten sie, soweit es ihre unterschiedlichen sozialen Umstände erlaubten, jede freie Minute miteinander verbracht, immer heimlich und mit Isabelles Hilfe, die sich die unterschiedlichsten Ausreden einfallen ließ, damit Nathalie über Stunden des Müßiggangs verfügte, in denen sie den Geiger treffen konnte.
»Was macht ihr denn hier um diese Zeit?«
»Ich wollte dir eine Nachricht hinterlassen«, erklärte Nathalie.
»Ist etwas passiert?«
»Ich fahre mit Onkel André nach Versailles.«
»Nach Versailles …«
»Es wäre so schön, wenn du mitkommen könntest …«
»Wann bist du wieder zurück in Paris?«
»Nach der Uraufführung von Amadis de Gaule .«
»Meinst du die neue Oper von Lully?«
Nathalie nickte.
»Der König bereitet eine große Feier in den Gärten vor, um die Oper dort in zwei Wochen
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