Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Freunde, Matthieu. Nathalie liebt dich.«
»Meinst du etwa, es wäre besser, sie zu heiraten, obwohl ich sie nicht wirklich begehre? Aber vielleicht sollte ich genau das tun …«
Die Art, wie er die Lider niederschlug, beunruhigte Jean-Claude.
»Du hast sie doch nicht etwa schon gefragt, oder?«, fragte er gequält.
»Du kannst beruhigt sein, wir sind nicht einmal verlobt.«
»Tu ihr nicht weh, mehr verlange ich ja gar nicht von dir.«
»Nathalie sieht viel mehr als du und ich. Ich versichere dir, dass sie ganz gut selbst entscheiden kann, was sie aus ihrem Leben machen soll.«
Jean-Claude starrte ihn an.
»Vielleicht bist du ja derjenige, der nicht weiß, was er aus seinem Leben machen soll.«
»Jetzt sag schon, warum du mich hierherbestellt hast«, flehte sein Bruder und machte der Diskussion damit ein Ende.
»Ich möchte, dass du mit mir einen einzigartigen Moment teilst«, erklärte Jean-Claude und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Was meinst du bloß?«
»Komm mit. Inzwischen müsste alles vorbereitet sein.«
»Wo denn?«
Jean-Claude stand auf und leerte seinen Becher.
»Folge mir einfach. Es ist nicht weit.«
»Jetzt sag mir schon, wohin wir gehen.«
»Nur Geduld.«
Sie verließen die Schänke, und Jean-Claude lief los, die Straße hinunter.
Als Matthieu ihn einholte, begannen sie einen spielerischen Streit, stießen gegen den Korb einer Gemüsehändlerin und warfen ein paar Rüben zu Boden. Die junge Frau bückte sich, um die Ware aufzuheben. Jean-Claude entschuldigte sich mit einer übertriebenen Verbeugung und strich ihr, als er sich wieder aufrichtete, die roten Locken aus dem Gesicht, die ihr unbändig in die Stirn fielen. Flink wie ein Wiesel packte sie ihn am Handgelenk. Er warf ihr eine Kusshand zu, und die beiden Brüder eilten weiter, rannten durch die Menge und brachten noch mehr Markthändler in Rage so wie früher, als sie noch Kinder waren.
Was war es bloß, was Jean-Claude ihm zeigen wollte? Er hatte ihn schon lange nicht mehr so aufgeregt erlebt. Sie machten einen Satz über ein paar Fässer mit eingelegtem Fisch und verschwanden in einer engen Gasse, in die das Abwasser der Gebäude rund um den Markt abfloss. Der Gestank war widerlich. Kurz darauf blieb Jean-Claude vor der Rückseite einer Scheune stehen.
»Da sind wir«, flüsterte er. »Siehst du, es war gar nicht weit.«
»Was tun wir hier bloß?«
»Nicht so laut. Ich will einmal sehen, ob er schon da ist.«
Lautlos stiegen sie eine hölzerne Treppe hinauf, die zum Dach führte, und sahen durch ein kleines Fenster hinein. Von dort aus konnte man den gesamten Innenraum überblicken. Nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit der Scheune, durchzogen nur von schmalen Lichtkegeln, die zwischen schiefen Brettern hereinfielen. Im schattigen Inneren war langsam der Umriss eines Mannes auszumachen. Er trug einen Umhang und bewegte sich ruhig und elegant zwischen den Heuballen, als gehöre jede seiner Gesten zu einem oft geprobten Ritual. Matthieu konnte verschiedene Gerätschaften erkennen, die aus einem Labor zu stammen schienen. Es handelte sich um ein System zur Destillation mit einem kleinen Ofen und einer Halterung für einen Schmelztiegel, in den der Mann ein weißliches Pulver schüttete.
»Ein Alchemist?«
»Das ist Dr. Evans«, erklärte Jean-Claude.
»Wie?«
»Dr. Evans, der Engländer, den wir bei Mademoiselle de Guise kennengelernt haben.«
»Ja, das weiß ich durchaus noch«, unterbrach ihn Matthieu. »Aber was tut er hier?«
»Er wartet auf uns.«
»Auf uns?«
»Komm mit.«
Matthieu warf ihm einen verunsicherten Blick zu, aber irgendetwas hielt ihn davon ab auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging.
Auf einmal waren Geräusche zu hören, die von der gegenüberliegenden Seite der Scheune herrührten. Die beiden Brüder blickten wieder durch das Fenster ins Innere, um zu sehen, was da vor sich ging. Ein hünenhafter Mann mit einem Kreuz wie eine Pferdekruppe trat ein, nachdem er die Tür einfach mit der Schulter eingedrückt und dabei einen Teil der Lehmwand mit eingerissen hatte. Er warf sich auf Dr. Evans und hielt ihm beide Arme fest, während zwei weitere Männer folgten. Derjenige, der das Sagen zu haben schien, fragte den Doktor nach einer gewissen Partitur. Als Dr. Evans die Antwort verweigerte, schlug ihm der andere mehrmals mit unnötiger Brutalität ins Gesicht. Er gab ihm nicht einmal die Möglichkeit, seinen Fäusten auszuweichen. Blut und Speichel spritzten in
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