Das geheime Lied: Roman (German Edition)
gesehen habe, ist alles von dieser Liebe erfüllt. Ich werde nie wieder dieselbe sein, und ich fürchte, so ist es auch mit meinem Lied.«
»Die Liebe zerstört doch nicht«, beruhigte er sie. »Liebe erschafft Dinge.«
Sie lächelte ihn unendlich zärtlich an. Matthieu zeichnete mit dem Finger ihre Lippen nach. Er musste daran denken, wie er vom Wasser aus geblendet zum ersten Mal Fort Dauphin gesehen hatte, wie die Lemuren mit ihrem Schwanz in Form eines Fragezeichens dort ihren Tanz aufgeführt hatten, an die Palmblätter, die sich wie das Rad eines Pfaus ausbreiteten, und an den Stamm des Baobabs. Wie unberührt und rein diese Insel doch war! Aber auch so weit fort wie in einem Traum, der langsam verschwamm …
In diesem Moment fand er noch tiefere Traurigkeit in ihrem Blick.
»Ich will nicht, dass dir irgendetwas zustößt.«
Sie legte ihm die Hand auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, und begann, ihre Melodie zu singen. Warum gerade jetzt? Eine furchtbare Vorahnung überkam Matthieu, und er wollte sie schon bitten, doch lieber zu schweigen. Irgendetwas sagte ihm, dass er dieses Lied nie wieder hören würde. Er versuchte, sich endlich ein wenig zu beruhigen. Es war doch alles gut, Newton würde das Experiment bald beenden, und dann konnten sie das alles hinter sich lassen … Aber wohin würde ihr Weg sie dann führen? Wo lag jenes Universum der Fantasie, in das sie eingetaucht waren, als sie sich an jenem Morgen in Missons Hütte geliebt hatten? Endlich gelang es ihm, sich der Musik hinzugeben, und er schloss die Augen. Lunas Lied erfüllte jeden Winkel seiner Seele, die selbst aus diesen Noten und Pausen bestand, suchte nach einem Weg, dieser Zelle zu entkommen, und entwich schließlich durch die Gitterstäbe nahe der Decke. Endlich in Freiheit, spielte sie in den Gärten mit dem Wind, der den Sandstein flüstern ließ, schlüpfte zwischen Hecken und Gittern durch, drehte sich über den Wipfeln der Bäume und malte konzentrische Kreise auf die Wasseroberfläche der Teiche. Lunas Melodie entsprang einer einzigen Kehle, und dennoch klang sie wie der Gesang eines ganzen Chores, als sie sich mit dem Zwitschern der Vögel vereinte, mit dem Rauschen der tausend Brunnen von Versailles, mit dem Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster am Osteingang und mit den Geschichten vom alten Rom und von Griechenland, die die Bronzefiguren in den Gartenanlagen erzählten. Matthieu begriff, dass Luna dieses magische Orchester von Anfang an mit einbezog. Sie nutzte die Töne, die sie umfingen, die Dinge in ihrer Umgebung und die Gefühle ihrer Zuhörer. Daher fand ihr Gesang einen Weg in die Herzen und rührte sie.
In der Zwischenzeit hockte der König, der nichts von der Musik ahnte, die seinem Keller entstammte und sich hoch über seine Gärten aufschwang, noch immer auf seinem Thron und sehnte gespannt den Moment herbei, in dem die Zeremonie ihren Höhepunkt erreichen würde. Aufmerksam betrachtete er die abendlichen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster der Galerie hereinfielen und in wenigen Sekunden im passenden Winkel auf die hintere Wand treffen würden. Alle Gäste harrten erwartungsvoll dieses Augenblicks, sie standen unbewegt da wie griechische Statuen und hielten unter ihren Tuniken und schmückenden Ranken die Luft an.
»Enthüllt die Spiegel!«, befahl Ludwig XIV .
Eine Heerschar von Dienern zog gleichzeitig an den Tüchern. Im ersten Moment waren nicht einmal Ausrufe des Erstaunens zu hören. Die Adligen betrachteten mit offenem Mund, wie die Sonnenstrahlen der Tagundnachtgleiche gleich einer ganzen Sternenkonstellation in den Hunderten von Spiegeln der Galerie glitzerten.
»Sonnt euch im Glanz der Krone!«, rief der König verzückt aus.
Endlich brach die Begeisterung aus den Edelleuten heraus, und jeder rannte los, um ein freies Plätzchen zu ergattern und sich von oben bis unten betrachten zu können. Sie zeigten auf sich und lachten, während die Spiegel ihnen ein riesiges, gnadenloses Abbild ihrer fiktiven Welt zeigten: die geschminkten Gesichter, eingehüllt in Tuniken aus vergangenen Zeiten, umgeben von Skulpturen aus Marzipan und einem Heer aus Dienern, die mit ihren Tabletts herbeitänzelten und so einer gekünstelten Choreographie folgten.
In diesem Augenblick drehte die Melodie vom Ursprung, die Luna noch immer in der Zelle im Keller sang, eine Pirouette über dem Latona-Brunnen und schlug dann unauffällig den Weg zum Spiegelsaal ein. Sie strömte durch die offenen Fenster
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