Das geheime Lied: Roman (German Edition)
scheint zum Leben erwacht!«
»Das ist das Leben selbst, es ist der Anfang und das Ende! Wie schon eine mittelalterliche Abhandlung verkündete«, rief der Engländer aufgeregt aus, »erreicht die Kunst der Alchemie in nur kurzer Zeit das, wozu die Natur Tausende von Jahren braucht! Der Stein wird bald seine definitive Form annehmen! Ich verspüre bereits seinen Einfluss!«
Matthieu sah fasziniert dabei zu, wie der goldene Stamm wuchs und wuchs. Er erinnerte sich an die Worte seines Onkels, als er ihm an jenem Abend in der Bastille zum ersten Mal von den Wundern des Steins erzählt hatte. Es ging um die Verwandlung des Geistes, eine Rückkehr in den Zustand vor dem Biss in den verbotenen Apfel und darum, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken, vom Baum des Lebens. Waren sie wirklich nur noch ein paar Schritte davon entfernt, endgültig zu erwachen, das Licht zu sehen und sich mit Gott zu vereinen? Sie standen so kurz davor, und nun sehnte auch er sich nach der Rückkehr zu jenem Augenblick, in dem die Engel die Melodie vom Ursprung angestimmt hatten, um die Seele in den Körper aus Lehm zu locken.
Just in diesem Moment fiel das Bäumchen in sich zusammen. Das Gesicht des Wissenschaftlers wurde schlagartig finster, er sprach jedoch kein Wort. Stattdessen beobachtete er bestürzt, wie die Mischung zusammenschmolz und wieder denselben grünlichen, später dann bräunlichen Farbton annahm wie zuvor.
»Was zum Teufel geht hier vor sich?«, murmelte Newton, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
Von diesem Moment an zeigte der Engländer keine Begeisterung mehr. Er ging noch einmal höchst konzentriert die Phasen durch, die die Partitur vorgab, und wartete dann den Moment ab, in dem er das Feuer endgültig löschen musste. Währenddessen entstanden hier und da einzelne Zweige, die jedoch früher oder später wieder in der brodelnden Masse versanken.
»Vielleicht hatte der König doch recht …«, murmelte Charpentier, der enttäuscht war, dass das Experiment nicht so verlief wie geplant.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Er hat ja bereits in Frage gestellt, ob Gott die Verwandlung, die wir hier anstreben, überhaupt gutheißt.«
»Er hat mich doch auserwählt! Schweigt endlich!«
»Vielleicht haben wir irgendwo einen Fehler gemacht«, warf Matthieu ein. »Das Rätsel …«
»Die Vorgabe des Rätsels ist korrekt«, widersprach Newton, den es immer noch grämte, dass er nicht selbst die Lösung gefunden hatte. »Ich habe im angemessenen Moment mit der Zubereitung begonnen, und von diesem Augenblick an habe ich mich nach den Angaben der Partitur gerichtet und nichts ausgelassen!«
Aus dem Durchgang zum benachbarten Kämmerchen erklang nun Lunas Stimme. »Vielleicht ist es wegen der Melodie …«
Alle drehten sich zu ihr um.
»Was soll das heißen?«, fragte Newton äußerst ernst.
»Mein Gesang ist womöglich verdorben.«
Matthieu griff augenblicklich ein.
»Kümmert ihr euch um den Stein«, bat er die anderen. Mit wenigen Worten beruhigte er den Wissenschaftler, der sich augenblicklich wieder seiner Aufgabe zuwandte, und zog Luna dann zurück in die Zelle. »Die Melodie ist perfekt.«
Sie setzten sich auf die Pritsche, und er nahm sie in den Arm. Er hatte es nicht gewagt, ihnen zu sagen, dass Luna gegen die Regeln der Hüterinnen verstoßen hatte, die ihr geboten, die Ohren vor jeglicher anderer Musik zu verschließen. Es stimmte schon, seit ihrer Flucht aus dem Reich der Anosy hatte sie den Gesang des Griot auf dem Schiff gehört, die wilden Melodien der betrunkenen Fiedler, die in Libertalia zum Tanz aufspielten, und sogar … Es überkam ihn eiskalt. Sie hatte auch der Musik gelauscht, die er selbst in Missons Hütte für sie gespielt hatte, als er nicht widerstehen konnte und ihr einige Linien aus Monteverdis Orfeo gewidmet hatte, nachdem sie gemeinsam die Seele der Violine berührt hatten.
»Glaubst du wirklich, dass es daran liegen könnte?«, fragte er sie. »Es erscheint mir unmöglich, dass dein Lied in so kurzer Zeit Schaden nehmen konnte. Denn das ist doch deine Melodie, du hast sie von Kindheit an immer gleich gesungen …«
Luna drückte ihn noch fester.
»Ich sage ja auch nicht, dass sie durch den Einfluss fremder Musik verdorben wurde.«
»Aber was dann?«
»Ich fürchte, es hat etwas mit der Liebe zu tun, die ich für dich empfinde. Wie kann ich denn dasselbe singen, wenn ich weiß, dass du nun ein Teil von mir bist? Seit dem Tag, an dem ich dich auf dem Deck jenes Schiffes
Weitere Kostenlose Bücher