Das geheime Lied: Roman (German Edition)
ihren Ehemann hinter Schloss und Riegel zu schaffen, und wandte sich dann mit der Miene eines Helden ohne weitere Erklärungen an seine Gäste:
»So wie die Sonne die Erde hell erleuchtet, das Gute noch schöner erscheinen lässt und das Schlechte offenbart, so bringt auch das Urteilsvermögen eures Herrschers Gut und Böse ans Licht, um Ersteres zu preisen und Letzteres zu strafen. Möge die Gerechtigkeit des Königs walten!«
Inmitten des ganzen Tumults übte Matthieu Druck auf seine blutige Schulter aus. Aus dem Augenwinkel warf ihm der Souverän einen Blick zu.
»Gebt mir Bescheid, wenn das Experiment vollendet ist«, war alles, was er sagte, bevor er gemeinsam mit einer Ballettgruppe, die große Bienenflügel trug und hinter dem improvisierten Vorhang hervorflatterte, zum Tanze schritt.
7
M it einem Mal war Matthieu am Ende seiner Kräfte. Die große Sorge, die ihn monatelang bedrückt hatte, war jählings von ihm abgefallen und hatte eine Leere hinterlassen, die er irgendwie ausfüllen musste, um sich auf den Beinen zu halten. Am liebsten wäre er umgehend nach Hause zurückgekehrt, hätte seine Eltern in die Arme geschlossen und ihnen erklärt, dass sie jetzt nichts mehr zu befürchten hatten. Was er nun aber wirklich brauchte, war Luna. Er rannte durch die Räume des Palastes bis zur geheimen Kellertür. Dann sprang er die Treppenstufen hinunter und schob sich in die ehemalige Speisekammer, die zum Labor umfunktioniert worden war. Der Rauch des Experiments erfüllte jede Ecke und ließ das Zimmer wie den Vorraum zu einem bizarren Traum erscheinen. Newton kontrollierte weiterhin die Zeiten und Temperaturen und schenkte ihm nur wenig Beachtung – er sah lediglich kurz auf und vertiefte sich dann wieder in die Formen, die die Flammen des Ofens bildeten. Matthieu sah in die angrenzende Zelle. Luna lag erschöpft auf der Pritsche, zu einem Knäuel zusammengerollt und fast völlig unter einem Tuch verborgen. Er hockte sich hin und zog vorsichtig den Stoff beiseite, der ihr Gesicht verdeckte.
Sobald sie die Augen aufschlug, entdeckte sie die Wunde an seiner Schulter. Sie war so matt, dass ihr nicht einmal die Kraft blieb zu erschrecken.
»Geht es dir gut?«, fragte sie, hob die Hand und näherte die Finger seinem Blut.
»Besser als je zuvor.«
»Mein Wasserfall …«
»Jetzt ist alles vorbei.«
Matthieu liebkoste ihren Hals. Ihre Haut fühlte sich kalt an. Traurig neigte sie den Kopf.
»Was bedrückt dich?«
»Ich weiß auch nicht.«
Der junge Musiker sah sich um: das Kellergewölbe aus feuchtem Stein, die Fleischhaken an der Decke, die schwachen Sonnenstrahlen, die durch das Gitter hoch oben hereinfielen. Wieder war sie eingesperrt, eine ewige Gefangene.
»Wir gehen bald fort von hier, das verspreche ich dir.«
»Und wohin?«, fragte sie.
Er ließ sich neben ihr auf dem Fußboden nieder und deckte sie liebevoll zu. War es womöglich ein Fehler gewesen, sie nach Frankreich mitzunehmen? Einen Moment lang befürchtete er, sie würde durch die verpestete Luft eingehen, die sie hier atmete. Newton hatte doch gesagt, dass Menschenhand den Ursprung verdirbt, und Luna war dieser Ursprung, sie war pure, zerbrechliche Essenz. Eine Blume, die im Reich der falschen Sonne dahinwelkte.
Er versuchte, sich ein wenig zu beruhigen, legte den Kopf in ihren Schoß und lauschte durch die Laken ihren Atemzügen. Als er schon fast eingeschlafen war, ertönte auf der anderen Seite der Wand plötzlich ein Schrei. Beide standen hastig auf, um nachzusehen, was dort vor sich ging. Auch Charpentier, der im selben Moment eintraf, setzte eine besorgte Miene auf. Newton stand mit ausgebreiteten Armen da und starrte den Schmelztiegel an.
»Die Verwandlung setzt ein!«, rief er.
Das philosophische Quecksilber hatte auf das Gold die erstaunlichen Auswirkungen, von denen er vor dem Überfall auf der Handwerkerbrücke gesprochen hatte. Es blähte sich auf und nahm einen grünlichen Farbton an, nur um dann wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückzukehren und neue Mutationen zu durchlaufen. Matthieu konnte die Augen kaum abwenden. Plötzlich dehnte sich die Masse im Tiegel aus, und in der Mitte begann eine Art Stängel zu entstehen, der immer dicker wurde, bis er sich schließlich zu einem richtigen Stamm verbreitert hatte, aus dem goldene Zweige sprossen. Es war ein winziges, aber vollkommenes Bäumchen, in dessen Inneren eine Sonne explodierte.
»Nun fehlt nicht mehr viel!«
»Mein Gott«, bemerkte Charpentier. »Es
Weitere Kostenlose Bücher