Das geheime Lied: Roman (German Edition)
einer langen, scharfen Gabel, mit der man einen gefüllten Truthahn tranchiert hatte. Er warf sich auf den Offizier und setzte ihm die drei Zacken zielsicher auf die Halsschlagader.
»Tu es nicht!«, hörte er plötzlich hinter sich eine Stimme.
Die Zeit schien stehen zu bleiben.
Er sah sich um und erkannte zu seinem Erstaunen, dass es Lully war, der gesprochen hatte. Ausgerechnet er, der Letzte, von dem er Beistand erwartet hätte. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass der tyrannische Direktor der Königlichen Musikakademie überhaupt jemals spontan handelte. Vielleicht hatte er sich durch das Aufflackern seines schlechten Gewissens dazu hinreißen lassen. Ihm war womöglich klar geworden, dass seine Verwendung des Duetts im Amadis de Gaule der erste Schritt zu dieser wahnwitzigen Verkettung von Umständen gewesen war, und er wollte den Verlauf der Dinge nun auf die eine oder andere Art beeinflussen. Oder vielleicht war sein Eingreifen auch in keiner Weise geplant gewesen, was Matthieu am logischsten erschien. Immerhin war auch Lully nur ein Mensch, auch wenn es eher selten den Anschein hatte.
Matthieu reagierte augenblicklich.
»Würdet Ihr etwas für mich tun, um zu verhindern, dass ich zusteche?«
Der Maestro zog die Augenbrauen hoch.
»Was habe ich denn mit alledem zu schaffen?«
»Veranlasst, dass mein Onkel mit der Partitur hergebeten wird«, bat Matthieu Louvois mit so großer Selbstsicherheit, als hätte er dies schon seit Stunden geplant.
Der Minister sah zum König hinüber, um dessen Einwilligung abzuwarten.
»Lasst Charpentier holen!«, befahl dieser den Soldaten der Schweizergarde, denn er hatte genau wie Lully sofort erfasst, was der junge Musiker im Sinn hatte. »Und sagt ihm, er soll die Partitur mitbringen!«
Virginie holte Luft, um etwas zu sagen, wurde vom Souverän aber mit einer unauffälligen Geste zum Schweigen gebracht.
Kurz darauf erschien der Komponist mit den Notenblättern in der Hand. Er sah sich nach allen Seiten um, ohne zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Als er Matthieu mit der Gabel über dem Offizier knien sah, schwanden ihm beinahe die Sinne.
»Zeigt Maestro Lully die Partitur«, bat der junge Mann seinen Onkel.
Charpentier reichte sie dem Hofmusiker, ohne zu verstehen, was es mit dem Ganzen auf sich hatte. Lully untersuchte die Niederschrift sorgfältig. Er nahm sich Zeit. Die anderen wagten kaum zu atmen. Eingehend betrachtete er das Legato am Anfang der Melodie und dann die kurze, flüchtige Note …
Er holte Luft, zögerte jedoch noch einen Moment, bevor er schließlich zum Sprechen ansetzte. Dann aber fiel sein Urteil eindeutig aus: »Es handelt sich um die Melodie, die Madame du Rouge vorhin gesungen hat.«
»Seid Ihr sicher?«, rief Louvois aus.
»Wollt Ihr mein Urteilsvermögen etwa anzweifeln?«
»Was soll denn das heißen, Jean-Baptiste?«, warf die Sopranistin ein und versuchte, durch seinen Vornamen eine gewisse Vertraulichkeit aufkommen zu lassen. »Ich weiß ja nicht einmal, wovon Ihr da redet …«
»Wärt Ihr dazu bereit, dies auch vor Polizeipräfekt de la Reynie auszusagen?«, fragte der Souverän seinen Ratgeber.
Dieser überlegte einige Sekunden.
»Worum sollte ich die Wahrheit verschweigen?«, sagte er schließlich.
Matthieu wich seinem Blick nicht aus. Wollte Lully mit dieser Geste wiedergutmachen, dass er vor Monaten, ohne mit der Wimper zu zucken, dabei zugesehen hatte, wie er in die Bastille geworfen wurde? Damals hätte er sich von seinem Stolz hinreißen lassen und hätte ihn angeschrien, dass er von jemandem wie ihm keine Almosen brauchte. Seitdem hatte sich aber so vieles verändert. Dem jungen Mann kam es vor, als schließe sich hier ein Kreis, daher waren es nun ganz andere Worte, die er sprach: »Danke, Maestro.«
Lully verneigte sich leicht in seine Richtung.
»Vielleicht ist es unser Schicksal, immer wieder vom Weg abzukommen, damit andere die Gelegenheit haben, uns verzeihen zu können«, urteilte Charpentier.
Sein ewiger Rivale quittierte auch diese Bemerkung mit einem formellen Nicken.
Der König war begeistert. Vor allen Anwesenden hatte er das Geheimnis um den schrecklichen Mord von Saint-Louis aufgeklärt. Er atmete tief durch und beschloss, dass es nun an der Zeit sei, sich wieder auf die anstehende Enthüllung seiner Spiegel zu konzentrieren und, was noch viel aufregender war, alsbald den Stein der Weisen in den Händen zu halten. Er befahl den Männern der Schweizergarde, die Sopranistin und
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