Das geheime Lied: Roman (German Edition)
wie weit ein Mensch aus Liebe gehen würde! Matthieu hatte seinen Bruder geliebt und ebenso das Duett, das er zum Abschied für ihn komponiert hatte.
Als er schließlich völlig erschöpft einschlief, gab es weder Tag noch Nacht.
Stunden später kitzelte die Berührung eines bekannten Geräusches sein Ohr. Zunächst dachte er, es entspränge bloß seinem Albtraum.
»Matthieu …«
Die Zelle erschien ihm auf einmal nicht mehr so düster, als er sah, dass es sein Onkel Marc-Antoine Charpentier war. Er wurde von einem Gefängnisaufseher begleitet.
Matthieu stürmte zur Luke.
»Gott sei Dank!«
»Was haben sie mit dir gemacht …?«
»Habt Ihr mit jemandem gesprochen?«, drängte Matthieu. »Ihr müsst mich hier rausholen …«
Mit einer diskreten Geste, die doch so viel Autorität ausstrahlte, bat Charpentier den Wächter, er möge ihn doch einige Minuten allein mit seinem Neffen einschließen. Ein paar Münzen überzeugten den Mann schließlich.
Sie fassten sich an den Armen und drückten sich fest, als wollten sie sich davon überzeugen, dass sie nicht bloß träumten.
»Was für Blut ist das?«
Charpentier zeigte auf die Kruste, die sich auf Matthieus Stirn gebildet hatte.
»Sagt doch bitte, dass Ihr mich hier rausholen könnt …« Der junge Mann begann zu zittern. »Wie bin ich bloß hier hineingeraten? Was für eine Schande, dass Ihr mich so sehen müsst …«
Charpentier überlegte, wie er formulieren sollte, was er seinem Neffen zu sagen hatte.
»Ich bin es, der sich schämen sollte.«
»Warum sagt Ihr so etwas?«
»Ich war die ganze Zeit über Jean-Claudes Tätigkeiten informiert«, gab er unumwunden zu.
Matthieu war sprachlos.
»Bis zu welchem Punk kanntet Ihr …«
»Ich wusste, dass er Kontakt zu Dr. Evans hatte und an diesen Partituren arbeitete. Mein Gott, wie sehr ich das jetzt bereue. Dein Bruder ist tot, und Dr. Evans liegt im Hôtel-Dieu im Sterben …«
»Der Engländer hat den Angriff überlebt?«
»Ja.«
»Verdammt, Ihr habt mich in allem belogen! Wart Ihr im Leben überhaupt schon einmal ehrlich zu mir? Warum erzählt Ihr es mir nun?«
»Ich wollte dich nur beschützen …«
»Das ist Euch ja offensichtlich nicht gelungen.«
Charpentier kämpfte mit den Tränen.
»Mach es mir doch nicht noch schwerer. Immerhin bleibt mir jetzt nur noch einer meiner …«
»Eurer Neffen?«, rief Matthieu erzürnt. »Oder vielmehr Eurer Schüler, denn das waren wir doch wohl für Euch? Seht nur, wohin Eure verfluchte Musik uns gebracht hat!«
Er schlug wütend gegen die Wand und drehte sich weg. Charpentier brachte kaum ein Wort heraus.
»Ich hätte nie gedacht, dass Jean-Claude mit seinem Leben spielte«, stammelte er schließlich. »Die Begeisterung hat uns beide mitgerissen …«
»Schweigt!«
Matthieu schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich bitte dich, hör dir doch an, was ich zu sagen habe. Uns bleibt nicht viel Zeit …«
Bei Matthieu war nun alle Arroganz wie weggeblasen.
»Ich will nicht sterben!«
Es brach Charpentier das Herz.
»Das wirst du auch nicht.«
»Und wie wollt Ihr das verhindern? Wenn mich der König nicht umbringt, dann tut es der Mann der Sopranistin.«
»Ich habe ein Angebot, das nicht einmal unser Herrscher ausschlagen kann.«
»Er hat doch schon Lully.«
»Es hat nichts mit meiner Musik zu tun.«
»Was könnt Ihr ihm denn sonst noch bieten?«
»Die Partitur der Melodie vom Ursprung.«
Endlich drehte sich Matthieu wieder um.
»Wovon redet Ihr?«
»Ich werde ihm die Partitur der Melodie vom Ursprung anbieten«, wiederholte Charpentier mit entschlossener Stimme, die jeden Winkel der Zelle zu erfüllen schien. »Jenes Lied, das zu Beginn der Zeiten von Gott inspiriert wurde.« Er trat näher, um Matthieu ins Ohr zu flüstern. »Die Melodie der Seele.«
Matthieu starrte ihn an.
»Oh mein Gott, jetzt habt Ihr endgültig den Verstand verloren, und ich muss es nun ausbaden …«
»Ich weiß, dass es schwerfällt, daran zu glauben, aber lass es mich doch erklären.«
In diesem Moment hatte der junge Musiker den Eindruck, einen Windstoß zu verspüren, obwohl es gar keine Ritzen im Gemäuer gab, durch die er in den Raum hätte dringen können. Er schloss die Augen und versuchte, sich diesem Säuseln hinzugeben, das ungestraft die wuchtigen Mauern des Gefängnisses überwunden hatte.
»Was macht es denn jetzt noch aus, ob ich das glaube oder nicht? Erzählt mir, was Ihr wollt«, murmelte er resigniert. »Mich kann sowieso niemand mehr retten.«
Jetzt,
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