Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Fall – um eine von ihm tolerierte außereheliche Abwechslung. Er würde später noch genug Zeit haben, seine Frau zur Rede zu stellen. Dumpfes Gemurmel breitete sich im Saal aus. Die Sopranistin war wie erstarrt. Sie versuchte zu antworten, ihrem Geliebten den Mund zu verbieten, brachte selbst aber kein einziges Wort heraus. Matthieu schrie ihren Namen immer und immer wieder. Beschämt lief sie davon, um sich in den Kulissen zu verstecken. Nathalie stand weinend auf und tastete um sich herum, weil sie diesen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte. André Le Nôtre verstand überhaupt nichts. Er versuchte, seine Nichte zu beruhigen, sie jedoch flehte ihn an, sie nach Hause zu bringen. Nicolas de la Reynie, der Polizeipräfekt, nutzte die allgemeine Verunsicherung und versetzte Matthieu einen Schlag gegen die Schläfe, bevor er ihn wie eine leblose Marionette wegschleifte.
Der König sank auf seinem Stuhl zusammen und ergriff die Hand von Marie Anne, einer seiner Töchter.
»Grämt Euch nicht, mein Herr«, beruhigte diese ihn, als sie in seinen Augen das neue unbekannte Bewusstsein einer Niederlage lesen konnte. »Alles wird wieder gut.«
»Und wie stellst du dir das vor? Meine Höflinge und ich stehen ja da wie die Figuren einer einzigen großen Tragikomödie. Wo beginnt denn hier die Bühne, und wo hört sie auf?«
Lully sah ihn aus den Augenwinkeln an. Er schwang seinen Stab, und wie Stehaufmännchen stimmten die Musiker den ersten Akkord des nächsten Aktes an. Die Pagen machten sich daran, die umgestürzten Bäume wieder aufzurichten. Die Höflinge kehrten zu ihren Plätzen zurück, ihr Gemurmel versiegte jedoch trotz der Musik noch lange nicht. Während der nächsten Wochen würde es viel Gesprächsstoff geben. So war sie, die Welt von Ludwig XIV ., ein Bienenstock herausgeputzter Geistererscheinungen, die sich an einem Gerücht über Ehebruch viel mehr labten als an der zauberhaften Harmonie von hundert Geigen. Niemand würde sich wegen der Verse an Amadis de Gaule erinnern, niemand würde davon träumen, sich den Ungeheuern entgegenzustellen oder die Prinzessin zu lieben. In Versailles beherrschte eine einzige Fantasie die Gedanken: die Vorstellung von der öffentlichen Hinrichtung des Verrückten aus dem Wintergarten.
15
M atthieu erwachte auf dem Karren, mit dem sie ihn wegschafften. Das schaurige Quietschen der Ketten an der Zugbrücke der Bastille riss ihn aus seiner Bewusstlosigkeit. Er trug Fesseln, die ihm unerträgliche Schmerzen verursachten. Als Erstes erblickte er die Soldaten, die auf den Türmen mit den Zinnen Wache hielten. Sie überquerten den Wassergraben und fuhren in den Innenhof. Mit einem Mal umgab ihn eiskalte Dunkelheit, die nur an einigen Ecken durch das Licht von Fackeln durchbrochen wurde. Man holte ihn vom Karren herunter und zerrte ihn weiter zwischen den krummen Säulen dieses schmutzigen Baus hindurch, der bis auf ein paar vergitterte Fenster, die den Blick auf noch düsterere Gänge freigaben, völlig von der Außenwelt abgeschottet schien. Als ihn dieses riesige steinerne Tier verschluckte, spürte Matthieu zum ersten Mal in seinem Leben schiere Panik.
Im Gefängnis gab es einen Bereich, der für straffällig gewordene Vertreter der Bourgeoisie reserviert war, einen anderen für gewöhnliche Verbrecher und dann, für aufmüpfige Gefangene, noch eine Reihe von Strafzellen. In eine solche brachte man Matthieu nun. Der Polizeipräfekt wusste genau, dass jemand, der so einen Vorfall wie den in der Orangerie auslöste, eine ganz besondere Behandlung verdiente. Man führte Matthieu eine Treppe hinunter, die zu beiden Seiten vom Boden bis zur Decke vergittert war. Durch die Metallstäbe ragten menschliche Arme, die versuchten, ihm die Kleidung vom Leib zu reißen. Die Wachen zerrten ihn den ganzen Gang entlang und warfen ihn dann brutal in den entferntesten Kerker. Dröhnend schlugen sie die Tür zu und sicherten sie mit einem Schloss. Trotz des Gestanks und der Kälte war Matthieu zunächst einmal erleichtert. Wenigstens musste er dieses feuchte Loch mit niemandem teilen. Das dumpfe Licht der Fackeln fiel durch die vergitterte Luke ins Innere, durch die das Essen gereicht wurde. Der Geiger hockte sich in die einzige Ecke, in der der Boden nicht mit Exkrementen bedeckt war. Die steinerne Bastille schien ihn mit all ihrem Gewicht zu erdrücken, also saß er unbewegt da und dachte nur darüber nach, warum er sich eigentlich so verhalten hatte. Er hatte bislang nicht gewusst,
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