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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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nicht schwer, da Matthieu unter spitzen Ästen begraben war. Ohne Rücksicht darauf, dass sie ihm dabei Arme und Gesicht zerkratzten, zerrte man ihn hervor. Fünf weitere Wachen umringten den König, um ihn zu beschützen. Niemand wusste, ob es sich um einen vorsätzlichen Anschlag auf die Krone oder die geladenen Ausländer handelte, ob bald die Komplizen dieses Wahnsinnigen auftauchen würden oder ob es hier einfach nur um einen Betrunkenen ging, der sich auf unerklärliche Weise eingeschlichen hatte. Die Höflinge waren aufgestanden und führten mit affektierten Gesten die Hand zum Mund. Das Publikum aus den letzten Reihen versuchte, sich von den umgestürzten Orangenbäumen zu befreien. Ein paar Damen weinten hysterisch. Die Schauspieler und Musiker verharrten wie erstarrt mitten auf der Bühne.
    »Führt ihn ab! Führt ihn ab!«, kreischte Lully.
    Matthieu wehrte sich. Die Wachen schlugen mit den Griffen ihrer Schwerter auf ihn ein, konnten aber nicht verhindern, dass er dabei schrie wie am Spieß. Alles war aus dem Ruder gelaufen. Und Matthieu dachte längst nicht mehr daran, welche Konsequenzen sein Verhalten haben würde. Ohne Furcht wandte er sich direkt an den Herrscher im Vertrauen darauf, dass dieser sich als der letzte Hüter der Wahrheit erweise.
    »Majestät! Hört mich an! Lully hat mir mein Duett gestohlen! Das ist meine Komposition! Mein Duett! Es gehört mir und meinem Bruder!«
    »Bringt ihn zum Schweigen!«, überschlug sich Lullys Stimme. »Führt ihn ab!«
    »Genug!«, rief der König und schob mit einer Geste die Wachen zur Seite, die ihn beschützten. Er war erzürnt. Er dachte an nichts anderes als daran, den jungen Mann eigenhändig vor dem gesamten Hofstaat zu erledigen. »Bringt ihn her!« Zwischen den Höflingen hindurch schleiften sie Matthieu herbei und versetzten ihm noch einen letzten Schlag, um ihn dazu zu zwingen, vor Ludwig XIV. niederzuknien.
    »Majestät«, keuchte der Geiger wieder, obwohl sie ihm den Arm auf dem Rücken so sehr verdrehten, dass sie ihm fast den Knochen gebrochen hätten, »das ist mein …«
    »Wer bist du, dass du es wagst, mich anzusprechen? Wie kannst du nur glauben, das Recht zu alledem zu haben?«
    Der Souverän schloss zornentbrannt die Augen, stieß einen schrillen Ton aus und verpasste dem jungen Mann mit dem Handrücken einen Schlag ins Gesicht.
    Niemand wagte es, sich zu rühren. Selbst der Sonnenkönig stand mit schmerzenden Fingern einige Sekunden reglos da. Man konnte nur sein Schnaufen vernehmen. Er wusste nicht, mit welcher Miene er sich an die Höflinge wenden sollte oder was er den Botschaftern aus Siam sagen konnte. Er schaute auf und betrachtete untröstlich die Sänger, die unterbrochen worden waren. Dann drehte er sich ganz langsam um und entdeckte, dass einige seiner Orangenbäume die Stühle der letzten Reihe umgeworfen hatten. Nach und nach nahm er den ganzen Wintergarten in Augenschein. Keiner der Edelmänner schien verletzt zu sein. Einige von ihnen untersuchten mit bedauerndem Blick Risse in ihrer teuren Abendkleidung. Zum Erstaunen der Anwesenden zog der König plötzlich den Säbel eines Wachmanns aus der Scheide. Das langsame Kratzen des Metalls in der Hülle zerriss die Anspannung, die sich aufgebaut hatte. Ludwig XIV . führte die Klinge an Matthieus Hals. Es quollen einige Tropfen Blut hervor. Die Hände des Monarchen zitterten vor Zorn. Er war fest entschlossen, ihm die Kehle durchzuschneiden, als der junge Musiker den Kopf hob.
    Die Tiefen seines Blickes zogen den König in ihren Bann, und gleichzeitig empfand er auf einmal völlige Hilflosigkeit. Der Hass, den er gerade noch gespürt hatte, löste sich plötzlich in Luft auf. Womöglich steckte hinter diesen Vorkommnissen ja doch etwas, das es anzuhören lohnte? Er beschloss, dem jungen Mann eine Chance zu geben. Immerhin, sagte er sich, konnte er so vielleicht seine Ehre retten, indem er die hohe Tugend der Milde walten ließ.
    Er zog das Schwert zurück.
    »Wie heißt du?«, fragte er und zwang sich zu einem salbungsvollen Tonfall.
    »Matthieu … Gilbert.«
    »Erklär mir, was hier geschehen ist.«
    Matthieu schien augenblicklich wieder zu Kräften zu kommen, obwohl er wegen der Schläge, die auf ihn niedergeprasselt waren, das rechte Auge kaum öffnen konnte.
    »Majestät, ich habe dieses Duett komponiert. Das schwöre ich, Majestät. Ich bin ein Schüler von Maestro Lullys Konservatorium. Er hat die Partitur an sich genommen, als …«
    »Bringt ihn zum Schweigen«,

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