Das geheime Lied: Roman (German Edition)
wo sich sein Neffe endlich beruhigt hatte, legte Charpentier ihm die Hand auf die Schulter und bewog ihn, sich mit ihm gemeinsam auf den Boden zu setzen, den Rücken an die schmierige Wand gelehnt. Er holte einmal tief Luft und begann einen rhythmischen Vortrag, als rezitiere er ein Gedicht.
»Bereits im alten Persien wurde erzählt, dass Gott Musik benutzte, um die Seele in diesem fleischlichen Körper einzuschließen, der unsere Bürde ist.«
»Kommt Ihr mir nun mit der Schöpfungsgeschichte?«
Der Komponist nickte.
»Die Legende erzählt, dass Gott nach seinem Abbild eine Figur aus Lehm schuf und ihr dann die Seele einhauchen wollte. Die Seele aber war ätherisch, und es gelang ihm nicht, sie einzufangen. Er fand auch keine Argumente, die sie überzeugten, von sich aus in den Körper zu fahren. Die frei geborene Seele wusste, dass jene Statue aus Lehm ihr zum Gefängnis werden würde, und umkreiste den leblosen Körper daher lange, ohne den Köder zu schlucken. Aber eines Tages kam Gott eine Idee: Er bat seine Engel, die schönste Weise vorzutragen, die je gesungen wurde. So geschah es, und die Melodie erfüllte das Universum. Als sie sie vernahm, war die Seele wie berauscht und beschloss, in den Körper zu fahren, um ihr noch direkter lauschen zu können, um sie in all ihrer Reichhaltigkeit durch die Ohren aus Ton zu vernehmen.«
»Wir sind Musik«, murmelte Matthieu, der sich der Geschichte endlich ergab.
»Das ist das Geheimnis. In der Legende wird erzählt, dass die Seele vom Körper Besitz nahm, als sie dieses Lied hörte. Aber in Wirklichkeit war die Seele selbst das Lied.«
Matthieu vergrub das Gesicht in den schmutzigen Händen.
»Ich habe das Gefühl, dass dies alles nur ein schlechter Traum ist.«
Charpentier kniete sich vor ihm hin.
»Ich werde die Partitur der Melodie vom Ursprung vollenden, koste es, was es wolle, und sie dem Herrscher im Austausch für dein Leben darbieten! Ich habe eine Audienz bei Minister Louvois erwirkt und …«
»Einen Moment …«, unterbrach ihn sein Neffe, der endlich den Zauber abschütteln konnte.
»Was ist los?«
»Handelt es sich etwa um die Partitur, die Jean-Claude transkribieren wollte? Die, nach der die Mörder gesucht haben?«
»Ja.«
»Mein Gott, was tue ich hier bloß? Ich habe doch geschworen, alles zu vergessen, was mit seinem Tod zu tun hat …«
»Das ist für mich die einzige Möglichkeit, dich hier herauszuholen«, erklärte Charpentier ernst.
Matthieu stand auf.
»Ich bitte Euch, mich jetzt allein zu lassen.«
»Wie bitte?«
»Geht!«
Er warf einen raschen Blick auf die Zellentür. Auch Charpentier erhob sich nun und fasste ihn an beiden Armen.
»Hast du denn nicht gehört, was ich …«
»Geht!«, befahl er wieder aus tiefstem Herzen.
Das Echo seiner verzweifelten Worte hallte in der Zelle wider. Charpentier ließ sich auf die Knie fallen und umklammerte ein Bein seines Neffen.
»Warum kannst du mir nicht verzeihen? Tu es für deine Eltern!«
Matthieu presste die Lippen aufeinander.
»Was haben die damit zu tun?«
»Sie haben es nicht verdient, auch dich zu verlieren.«
Matthieu sah ihn einige Sekunden lang an. Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf. Er sank wieder zu Boden und begann zu weinen wie ein hilfloses Kind, ohne Groll oder Wut, und ließ all dem Schmerz freien Lauf, der sich seit Wochen bei ihm angestaut hatte. Es kam ihm vor, als müsse er ganz neu lernen zu atmen, als ob er das Leben Schluck für Schluck wieder in sich aufnahm. Die beiden Männer umarmten sich lange.
»Ich schwöre, ich würde jeden Tropfen deines Leidens in mich aufsaugen, wenn ich könnte«, schluchzte Charpentier. »Ich würde mein ganzes vergangenes und zukünftiges Leben dafür hergeben, deinen Bruder nur noch ein einziges Mal sehen zu dürfen …«
Matthieu leistete jetzt keinen Widerstand mehr. Er bat seinen Onkel, ihm alles zu erzählen. Aus einem anderen Kerker war ein Klagelaut zu hören, der weder aus Worten noch aus Stöhnen bestand, aber in diesem Moment bekam der junge Musiker nichts anderes mehr mit als die tiefe Stimme seines Onkels. Dieser erzählte ihm, wie Dr. Evans ihn in dieses alchemistische Abenteuer eingeführt hatte und wie kurze Zeit später dessen Mentor, Isaac Newton, auf der Bildfläche erschienen war. Matthieu konnte das alles nicht fassen. Der englische Wissenschaftler war also besessen von der Alchemie, und Jean-Claude hatte mit ihm an seinem Endprojekt gearbeitet, in das er all seine Genialität und die
Weitere Kostenlose Bücher