Das geheime Lied: Roman (German Edition)
aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Ich kann nur hoffen, dass Dr. Evans nicht auch so ein Betrüger ist wie dieser Scharlatan, der vor einigen Monaten sein falsches Spiel mit uns getrieben hat«, entgegnete er misstrauisch. »Der König hat ihm in Montreuil sogar ein kleines Haus einrichten lassen, und zwar mit einem Instrumentarium, von dem selbst die besten Alchemisten Arabiens nur träumen können. Der Mann hat jedoch nichts weiter getan, als Bleistückchen anzusengen und hohle Reden auf seine adligen Besucher einprasseln zu lassen. Immerhin«, lachte er, »hat er bei den Höflingen ein paar Wochen lang für Amüsement gesorgt!«
»Das hier ist keine Farce. Und ich bin sicher, dass der Herrscher den Schatz zu würdigen weiß, der sich hinter diesem spirituellen Fantasiegebilde verbirgt. Es ist schließlich unübersehbar, dass auch unser Herrscher eine Verwandlung durchmacht …«
»Was für eine Verwandlung?«, unterbrach ihn Louvois hastig, stieß gegen den Tisch und verschüttete den Tee.
Auf dieses Thema wollte sich Charpentier jetzt nicht einlassen. Der Ratgeber des Königs wusste genauso gut wie er, dass der Herrscher in jüngster Zeit weltlichen Vergnügen immer mehr den Rücken zuwandte und stattdessen seine fromme Seite pflegte. Das lag möglicherweise an seinem fortgeschrittenen Alter oder vielleicht auch an Madame de Maintenons Einfluss, die bald seine neue Gemahlin werden würde. Es hieß, der Souverän ginge jeden Tag zur Beichte und zur Messe, als suche er einen Ausweg aus einem Leben voller Prunk, dessen Pfeiler plötzlich bröckelten, als seien sie aus Sand. Verständlicherweise fürchtete der Minister, der sich wie auch die restlichen Höflinge einem Leben so bunt wie eine Theaterbühne hingab, eine Wandlung Ludwigs XIV . zu einem neuen, düsteren und mystischen Herrscher.
Louvois kamen dieselben Zweifel, die am anderen Ende von Paris auch an dem wesentlich jüngeren Matthieu nagten.
»Wie könnt Ihr denn wissen, dass die Melodie, die Ihr niederschreibt, auch die richtige ist?«
»Wenn Ihr erst erfahrt, wer dieses Lied ausfindig gemacht hat, werdet Ihr keinerlei Zweifel mehr hegen.«
»Von wem sprecht Ihr?«
»Wenn die Zeit für das Experiment gekommen ist, wird er sich Euch persönlich vorstellen. Das Wichtigste ist nun, dass diese Melodie und keine andere in Afrika angestimmt wurde, als das Leben Form annahm.«
»Und wie erklärt Ihr Euch, dass sie bis in die heutige Zeit überliefert wurde?«
»Dies ist durch eine Kaste von Priesterinnen möglich, die geboren werden, um die Melodie weiterzutragen. Seit Jahrtausenden lernen sie sie von ihren Vorfahrinnen und geben sie an ihre Töchter weiter.«
»Afrikanische Priesterinnen?«
»Die Hüterinnen der Stimme. In jeder Generation wird eine von ihnen geboren, die sie ›Mondesstimme‹ nennen. Diese Frau hat übersinnliche Fähigkeiten, ebenjene, die sie braucht, um in den Zeremonien die Melodie vom Ursprung zu singen, ohne eine einzige ihrer vielen, kaum zu erfassenden Nuancen zu vernachlässigen. Ihre Gefährtinnen sorgen dafür, dass niemals anderer Gesang an ihr Ohr dringt, der sie beeinflussen könnte. So wird die Melodie, die sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hat, nicht verfälscht.«
»Ich kann kaum glauben, dass in Afrika überhaupt eine Gruppe Frauen überdauern kann. Dort gibt es doch nur Wüste und Urwald. Wo lebt denn dieser Klan? Vielleicht in Ägypten?«
Charpentier schüttelte den Kopf.
»Auf einer Insel noch jenseits des Kaps der Guten Hoffnung, einem so einzigartigen Eiland wie die Melodie, die es bewahrt.«
»Auf Madagaskar?«, fragte Louvois ungläubig.
»So ist es, auf dieser noch unerforschten Insel voll exotischer Tiere und Pflanzen!«, ließ Charpentier seiner Fantasie freien Lauf und gestikulierte dabei ausdrucksvoll, als wollte er sein Gegenüber hypnotisieren. »Es heißt, dass an der Küste dieser Insel Insekten furchtbare Krankheiten übertragen, durch die die Seeleute ihren Verstand verlieren, und dass ihre Berge von dichtem Nebel bedeckt sind, getränkt von der Magie ihrer Hexenmeister.«
»Madagaskar ist so fremd … und so reich …«, murmelte Louvois, ohne seine Habgier zu verbergen. »Wir haben jahrzehntelang versucht, es zu kolonialisieren, die Eingeborenen haben die Pläne der Kompanie jedoch immer und immer wieder zunichtegemacht«, gab er unumwunden zu.
Damit meinte der Minister die Französische Westindienkompanie. Sie war zwanzig Jahre zuvor als Konkurrenz zu den englischen und
Weitere Kostenlose Bücher