Das geheime Lied: Roman (German Edition)
niederländischen Kompanien gegründet worden: In wirtschaftlicher Hinsicht versuchte sie, die Handelsrouten zu verbessern, in politischer Hinsicht trug sie zur Erweiterung der staatlichen Marine bei und unterstrich die Präsenz der Monarchie auf den Meeren, gleichzeitig verbreitete sie die französische Sprache und widmete sich der noblen Aufgabe, die Heiden zu bekehren. Das alles entsprach einem genialen Plan, den Colbert entwickelt und den der Sonnenkönig beherzt aufgegriffen hatte. Und obwohl sich in Bengalen und in anderen Enklaven des Mogulreiches florierende Kolonien entwickelten, so war dies auf Madagaskar nicht der Fall. Die Bewohner jener üppig bewachsenen Insel mit ihren Reichtümern, die gegen die Unersättlichkeit der Engländer und Holländer immun geblieben war, hatten einen undurchdringlichen Schutzschild errichtet, an dem auch die Waffen des Königs immer wieder zerschellten.
»Die Hüterinnen der Stimme haben sich zweifellos einen passenden Rückzugsort ausgesucht«, murmelte Louvois.
»Im Laufe der Zeit haben sie den Schutz der einflussreichsten Herrscher genossen. Im Süden der Insel ist der Stamm der Anosy vorherrschend, und es regiert der Sohn eines alten Anosy-Königs. Er behandelt die Hüterinnen wie Göttinnen, so wie es ihnen gebührt. Dieser Eingeborene …«
»Diese verfluchten Anosy-Krieger kenne ich schon!«, wetterte Louvois auf einmal. Die endlosen Niederlagen, die die französischen Expeditionen erlitten hatten, schmerzten ihn. »Vor zehn Jahren haben sie uns aus Fort Dauphin vertrieben, und das Schlimmste daran ist, dass ich keine Möglichkeit sehe, diese Niederlassung wieder einzurichten!«
Charpentier wartete einige Sekunden ab, bis sich sein Gegenüber wieder beruhigt hatte. Ihm war klar, dass die Unfähigkeit, sich auf Madagaskar anzusiedeln, ein Stachel im Fleisch des Königs war. Die Französische Westindienkompanie hatte seinerzeit eine Festung im Süden der Insel erbaut, der sie zu Ehren des französischen Thronfolgers den Namen Fort Dauphin gegeben hatten. Es war ihnen sogar gelungen, die Bastion einige Jahre lang mit einer kleinen Militäreinheit zu halten, man konnte jedoch nicht von wirklicher Kolonialisierung sprechen, da sich die Eingeborenen nicht unterwerfen ließen. Im Jahre 1674 wurden der Gouverneur des Forts und all seine Männer definitiv vertrieben, und seitdem stammten die einzigen Neuigkeiten über die Anosy-Krieger von den wenigen Seeleuten der Kompanie, die gezwungenermaßen die Gewässer rund um die Insel befahren und überlebt hatten. Die Kapitäne wussten um die enorme Gefahr, wenn sich aber ihre Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung verzögerte und sie in die Passatwinde gerieten, dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als einige Wochen vor Madagaskar zu ankern, bevor sie den Indischen Ozean durchquerten.
»Der Matrose eines Schiffes, das von Bengalen zurückkehrte, hat die Melodie mitgebracht«, erklärte Charpentier.
»Ein Matrose?«
»So ist es. Sein Frachter musste bei der Insel einen Zwischenhalt einlegen, um nach einem schlimmen Unwetter Schäden zu reparieren, und obwohl es einige Begegnungen mit den Eingeborenen gab, sind sie gesund und munter zurückgekehrt. Zu Beginn des Jahres lief ihr Schiff in La Rochelle ein, den Frachtraum voll Pfeffer und Seide. Das Wichtigste ist aber, dass der Matrose die Geige im Seesack und die Melodie im Kopf hatte.«
»Wie ist es den Seeleuten denn gelungen, die Insel unbehelligt zu verlassen? Und wieso hat der Mann die Melodie überhaupt gehört?«, drängte Louvois.
Es erfüllte Charpentier mit Zufriedenheit, dass ihm der Minister nach und nach ins Netz ging.
»Wie ich Euch gerade erläutern wollte«, antwortete er stolz, »hat Ambovombe, ein Sohn des Anosy-Königs, sich gegen seinen eigenen Vater aufgelehnt und so die Macht über ganz Südmadagaskar erlangt. Er verfügt nicht nur über ein blutrünstiges Heer, sondern konnte die anderen Klane auch durch den Zauber der Priesterin unterwerfen.
Wie der Seemann erklärte, sind das nicht mehr wie zu Gouverneur Flacourts Zeiten kleine Bauern, die eine Lanze umklammern, um ihren Acker zu schützen. Er erzählte von organisierten Eingeborenengruppen, die für den Ruhm ihres Herrschers gegen Mitglieder des eigenen Volkes kämpften. Um seine Macht zu zeigen, hat Ambovombe selbst den Männern der Kompanie befohlen, an der Zeremonie teilzunehmen und der Melodie der Priesterin zu lauschen.«
»Zweifellos bestand sein Plan darin, dass die Besatzung danach alle
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