Das geheime Lied: Roman (German Edition)
unterbreiten!«
Charpentier versuchte, seinen Neffen mit einer Handbewegung zu beruhigen. Genau in diesem Augenblick wurde die Zellentür zugeschlagen.
»Lasst ihn los!«, schrie Matthieu und presste das Gesicht gegen die Gitterstäbe des Gucklochs.
»Du wirst nicht sterben!«, war das Letzte, was er vernahm.
Während sein Onkel sich entfernte, verließ ihn auch der Mut, und die Fantasie verlor ihre Wirkung. Er hatte das Leben verspielt, welches ihm geschenkt worden war, und die Schuldgefühle schmerzten ihn nun wie ein Geigenduett mit ungestimmtem Instrument. Die stumme Erinnerung an den blutüberströmten Jean-Claude auf der steinernen Treppe fügte seiner Symphonie des Wahnsinns weitere Nuancen hinzu. Er schrie, um die Stimmen in seinem Kopf nicht mehr hören zu müssen und auch Jean-Claudes Schweigen nicht und das beängstigende Wehklagen jenes anderen Gefangenen. Entsetzen überkam ihn, als er daran dachte, dass die Ewigkeit vielleicht auch nichts weiter war als Fäulnis und Dunkelheit.
16
M inister Louvois stand im Salon de Mars am Fenster und betrachtete die Gärten. Es handelte sich um den größten der sieben Räume im Grand Appartement, dem Bereich des Schlosses, in dem offizielle Akte stattfanden. Mars, Venus, Merkur … Jeder Salon stellte einen Planeten dar, und sie alle drehten sich rund um die Sonne, das königliche Emblem. Man hatte Ludwig XIV . so oft als Sonnenkönig bezeichnet, dass sein hochmütiger Verstand zu glauben begonnen hatte, er könne mit nur einem einzigen Blick ein Weizenfeld in Flammen aufgehen lassen.
Maestro Charpentier blieb in vorsichtiger Entfernung stehen. Louvois blickte noch immer hinaus. Er kleidete seine rundliche Figur gern in Spitzen und betonte stets die Schulterpartie – was eigentlich den Oberkörper strecken sollte, womit er aber bloß erreichte, dass sein Kopf noch runder aussah. Alles in allem wirkte sein Auftritt eher einem Galadiner angemessen als der Besprechung mit seinen Beratern, an der er gerade teilgenommen hatte. Der Komponist sah sich um. Er wollte sichergehen, dass sich außer ihnen niemand sonst im Raum befand. Das Podium aus Marmor, auf dem sich die Streicher niederließen, wenn der Herrscher hier einem Konzert lauschte oder sich an einer privaten Ballettaufführung ergötzte, war leer. Reglos wie Statuen standen in einer Ecke lediglich zwei Diener. Der Komponist schaute nach oben. Auf seinem von Wölfen gezogenen Wagen blickte ihn von dort der Kriegsgott an. »Der große Marc-Antoine Charpentier!«, rief Louvois auf einmal aus und drehte sich um.
»Exzellenz …«, grüßte dieser und neigte den Kopf.
Er war davon überzeugt, dass Marquis de Louvois genau der Richtige war, um ihm seinen Plan vorzutragen. Denn er hatte nicht nur das Amt des Kriegsministers inne, sondern war seit Colberts Tod auch zur wichtigsten Figur im königlichen Rat geworden, so dass der Souverän mit ihm alle Angelegenheiten besprach, auch die Fragen, bei denen es um die Kolonien ging.
»Endlich stattet Ihr mir auch einmal einen Besuch ab. Bislang musste ich mich ja damit begnügen, mir von unten her Eure Messen in Saint-Louis anzuhören«, klagte Louvois. Er bezog sich darauf, dass Charpentier seine liturgischen Arbeiten gelegentlich vor Publikum zum Besten gab. »Und ich glaube, ich weiß auch schon, weshalb Ihr mich aufsucht. Ihr wollt, dass ich Euch dem Herrscher empfehle, und zwar für die Hochzeit seiner unehelichen Tochter, Mademoiselle de Nantes, mit dem Duc de Bourbon. Zahlt Euch Eure Duchesse etwa nicht genug?«
»Ich bin aus völlig anderen Gründen hier«, sagte Charpentier, der über seine Mäzenin lieber nicht sprechen wollte, »und ich kann Euch versichern, dass sie es wert sind, angehört zu werden.«
»Eine Tasse Tee?«, fragte Louvois und versuchte so, in diesem Spielchen, das gerade erst begonnen hatte, wieder die Oberhand zu bekommen. Er deutete mit feisten Fingern auf ein Beistelltischchen, auf dem eine Kanne aus zartem Porzellan dampfte. »Der König hasst Tee, daher trinke ich ihn lieber allein.«
»Nein danke.«
Sein Gastgeber sog den Duft des Gebräus in sich auf.
»Ich an Eurer Stelle würde ihn mir nicht entgehen lassen. Er wurde extra aus China hergebracht … Das Pfund hat mich ein kleines Vermögen gekostet!«
Charpentier redete nicht lange um den heißen Brei herum. Er berichtete in allen Einzelheiten über die Melodie vom Ursprung und Dr. Evans’ Alchemieprojekt und verschwieg aus Vorsicht lediglich Newtons Namen.
Der Minister kam
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