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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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und warf ihm einen Umhang zu. »Und setz die Kapuze auf.«
    Wie ein Mönch verhüllt folgte der Musiker dem Mann bis in den Gefängnishof, wo durch ein schmales Fenster Tageslicht hereinfiel. Es war wie eine Rückkehr ins Leben. Mit Stößen trieb man ihn zu einem Wagen. Der Kutscher wartete, die Zügel in der Hand.
    Im Inneren saß sein Onkel.
    Sie umarmten sich. Die Pferde überquerten die Brücke und verfielen auf dem schlammigen Weg nach Versailles in Galopp.
    Unterwegs instruierte Charpentier seinen Neffen darin, wie er sich vor dem Herrscher zu verhalten hatte. Matthieu hörte schweigend zu. Die feuchte Kälte der Zelle saß ihm immer noch in den Knochen, und er betrachtete entsetzt die Verbrennungen, die das Antlitz des Komponisten entstellten. Charpentier fiel es schwer, Haltung zu bewahren. Die Drohungen des Meuchelmörders hatten ihn mit Angst erfüllt, das Schlimmste war jedoch, dass er sich die Geschehnisse nicht einmal von der Seele reden konnte. Es war ihm lieber, wenn Matthieu, der Schreiber und vor allem dessen Frau nicht wussten, in welcher Gefahr sie schwebten. Warum die Dinge noch komplizierter machen? Er würde schon einen Weg finden, allein mit dem König zu sprechen und seine Hilfe zu erbitten. Immerhin war dem Herrscher sicher auch daran gelegen, jene Männer zu ergreifen, die seine alchemistische Fantasie mit so viel Grausamkeit zu verhindern suchten.
    »Der Seemann ist tot«, war alles, was er seinem Neffen erklärte.
    »Was?«
    »Mach dir aber keine Sorgen …«
    »Wie kann ich mir denn bitte schön keine Sorgen machen? Was sollen wir jetzt tun? Wie willst du den König überzeugen …«
    »Lass mich mit ihm reden«, unterbrach ihn Charpentier, und sie sprachen bis zu ihrer Ankunft in Versailles kein Wort mehr.
    Matthieu verdrängte die Bilderflut aus seinem Kopf, die beim Anblick des äußeren Eingangstors auf ihn einstürmte. Die Orangerie, Amadis de Gaule , die Wachen, Nathalie und der Sonnenkönig, der höchstpersönlich anordnete, ihn in den Kerker werfen zu lassen …
    Die Kutsche überquerte den riesigen Waffenhof, der die Stallungen vom Cour Royale trennte, und machte vor der Vorhalle zur großen Treppe Halt. Zwei Lakaien begleiteten sie in einen kleinen Raum und brachten Matthieu Kleidung und eine Waschschüssel, damit er sich für die Audienz zurechtmachen konnte. Von dort aus stiegen sie direkt hinab in den Venus-Salon. Matthieu verstummte, als er den Raum betrat. So einen Luxus hätte er sich niemals träumen lassen. Er hatte den Eindruck, eine Galaxie zu durchwandern, in der all die goldenen Sonnen leuchteten, die Türen und Wände zierten. Das Zimmer war mit perfekt gearbeiteten Statuen und Büsten geschmückt. Hier und da verteilt angeordnete Säulen aus braunem Marmor stützten die riesige Kuppel, in der die Göttin der Liebe sich mit ihren Untertanen verlustierte. Die Tische im ganzen Raum quollen vor frischem Obst und kandierten Früchten, Kaffee, Likör und Marzipan über und erwarteten das abendliche Mahl der Höflinge. Obwohl er seit Tagen nichts gegessen hatte, wandte der junge Mann sich ab, ohne etwas anzurühren. Charpentier beobachtete ihn schweigend.
    Als man ihn darüber informierte, dass der Komponist und sein Neffe im Schloss waren, begab sich der König ungeduldig in einen Raum, der »Kuriositätenkabinett« genannt wurde. Da es sich um ein geheimes Treffen handelte, hatte er dafür keinen der Säle ausgewählt, die er täglich für offizielle Empfänge nutzte. Er hatte sich mit Minister Louvois beraten und sich für dieses kleinere Gelass entschieden, in dem er die wunderlichsten Dinge aus allen Teilen der Welt ausstellte: Vasen, Edelsteine, von ottomanischen Goldschmieden verzierte Waffen, Elfenbein und Weihrauchfässchen aus Asien.
    »Ist diese afrikanische Melodie denn nicht der seltsamste und begehrteste Schatz, den dieser Palast beherbergen könnte?«, sagte er zu seinem Ratgeber, während er eine einstudierte Pose einnahm, mit der er die beiden Musiker empfangen wollte.
    Louvois trug ebenfalls eine arrogante Miene zur Schau, mit der er seine Wichtigkeit unterstreichen wollte. Auf sein Händeklatschen hin öffneten zwei Palastwachen die Tür.
    Charpentier machte noch auf der Schwelle eine Verbeugung.
    »Majestät …«
    Neben ihm stand Matthieu, der den Herrscher so gerne angeschaut hätte, den Anweisungen seines Onkels folgend, jedoch den Blick nicht vom glänzenden Fußboden abwandte.
    »Was ist mit Euch geschehen?«, fragte der König, als er der

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