Das geheime Lied: Roman (German Edition)
schrecklichen Verbrennungen des Komponisten gewahr wurde.
»Man hat den Seemann ermordet, Majestät.«
»Den Mann, der die Melodie auswendig kannte?«, warf der Minister ein.
Charpentier nickte.
»Ich wollte ihn vor den Mördern meines Neffen warnen, es gelang ihm aber nicht mehr zu fliehen.«
»Konntet Ihr diese Männer identifizieren?«
»Zwei von ihnen sind tot, es hat sie aber niemand wiedererkannt. Der dritte …« Er dachte an die Stimme des Mannes und musste schlucken. »Auch ihn habe ich noch nie zuvor gesehen.«
König Louis hätte sich am liebsten auf seinen Berater gestürzt. Er hatte die Nacht damit verbracht, sich an der Vorstellung von diesem alchemistischen Kleinod zu laben. Mit der Naivität, mit der Kinder sich als Figuren in Perraults Märchen hineinträumen, hatte auch er sich schon als Besitzer der Melodie gesehen. Aber er erlaubte sich nicht, die Fassung zu verlieren. Das hätte durchblicken lassen, wie machtlos er sich in diesem Moment fühlte. Er unterdrückte das Zittern, das ihn überkam, und ergriff betont gelangweilt das Wort.
»Dann hält Euch hier wohl nichts mehr. Ihr könnt gehen.«
»Aber …«
»Wirklich schade«, fuhr er fort und verbarg hinter geziertem Desinteresse die Frustration, die er verspürte, als Note um Note der Melodie vom Ursprung verhallte, noch bevor er ihr hatte lauschen können. »Da es meinem ach so gerühmten Lully ja nicht gelingt, mir eine Oper zu schenken, die die arroganten Italiener sprachlos macht, hätte ich allzu gern die Armeen Europas mit dieser Melodie unterworfen. Der Minister hat mir erzählt, dass die Stämme Madagaskars sich bereitwillig ergeben haben, sobald dieses Lied ertönte … Mir gefällt die Idee, durch Musik Kriege zu beenden.« Er schloss mit einem affektierten Seufzer. »Und dem Oberintendanten der Finanzen wäre es auch recht gewesen.«
Nach Jahrzehnten der Eroberungen hatte der grenzenlose Ehrgeiz des Sonnenkönigs das Land in eine unhaltbare Situation gebracht. Der Wert des Louis d’or fiel von Jahr zu Jahr, und der wertvolle Schmuck des Herrschers stand kurz davor, eingeschmolzen zu werden. Charpentier aber, dem dickköpfigen und verstoßenen Komponisten, waren die Finanzen der Krone egal. Ihn interessierte nur das Leben Matthieus und seiner restlichen Familie, und er wollte sich die Gelegenheit, bei ihrer Rettung mit königlicher Hilfe rechnen zu können, nicht entgehen lassen.
»Majestät, wir wissen, wo diese Melodie zu finden ist«, verkündete er, genauso, wie er es in Gedanken Wort für Wort geprobt hatte.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Wenn Eure Majestät jemanden nach Fort Dauphin entsenden würden, jemanden, der dazu in der Lage ist …«
»Fort Dauphin ist seit zehn Jahren verlassen.«
»Das weiß ich, aber vielleicht könnten Eure Majestät bei der nächsten Expedition in Richtung Indien einen richtigen Musiker mitschicken und einen Zwischenhalt in Madagaskar anordnen. Dort soll er der Melodie lauschen und sie angemessen auswendig lernen. Ich bin davon überzeugt, dass der Matrose sie niemals korrekt gespielt hat und wir die ganze Zeit mit verdorbenem Material gearbeitet haben. Wenn dieser Musiker nach Frankreich zurückkehrt, werde ich mich mit ihm zusammensetzen und tausend Partituren schreiben, wenn es sein muss, aber ich versichere Euch, dass wir dann die richtige finden werden.«
»Mein lieber naiver Charpentier«, entgegnete der Herrscher herablassend, »wir können nicht einfach einen armen Musiker in ein feindliches Gebiet schicken und davon ausgehen, dass er schon überleben wird, bis er diesen Eingeborenenkönig findet. Und selbst wenn es so wäre, wie soll er denn erreichen, dass die Priesterin für ihn singt?«
»Ihr seid schließlich der Sonnenkönig«, improvisierte Charpentier gelungen. »Euch bleibt doch nichts verwehrt!«
Der Herrscher wusste genau, dass der Plan des Komponisten viel zu simpel war, um gelingen zu können, aber dieser Schmeichelei konnte er sich nicht widersetzen.
»Hm …«
»Ich werde in einer Zelle im Palast Quartier beziehen und Tag und Nacht schreiben«, fuhr Charpentier flehentlich fort. »Majestät, denkt daran, dass Euch das Paradies offen stehen wird, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin.«
Während der König hin und her überlegte, ob es wohl einfacher wäre, sich diesen Traum aus dem Kopf zu schlagen, um sich weitere Enttäuschungen zu ersparen, oder sich auf eine lange Wartezeit einzustellen, die schließlich auch kein glückliches Ende garantieren
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