Das geheime Lied: Roman (German Edition)
mich gehen?«, fragte Charpentier mit zitternder Stimme.
»Wohl kaum.«
»Was wollt Ihr von mir?«, brachte der Musiker mit letzter Kraft hervor. Er zwinkerte, um die Lichtblitze auf seiner Netzhaut zu vertreiben und sich die Gesichtszüge jenes Mannes einzuprägen.
»Warum gebt Ihr mir nicht einfach die Partitur, und wir lassen die Sache auf sich beruhen?« Der Mann zeigte auf den toten Matrosen. »Erst Euer Neffe, dann Dr. Evans und jetzt dieser Unglücksrabe. Meint Ihr nicht, dass Ihr schon genug Unheil angerichtet habt?«
»Ich habe sie nicht, ich schwöre …«
»Das glaube ich nicht.«
»Mein Neffe hat sie nicht vollendet«, schluchzte Charpentier. »Und wer kann uns denn versichern, dass dieser Seemann wirklich die richtige Melodie gehört hat? Vielleicht existiert sie ja nicht einmal …«
»Ich glaube Euch nicht!«, wiederholte sein Gegenüber wütend. »Wenn die Melodie nicht vollständig ist, dann setzt Euch eben an die Orgel und schreibt sie verdammt noch mal zu Ende!«
Er hob das Schwert und hielt dem Komponisten die schlammige Klinge an den Hals. Charpentier begann unkontrolliert zu zittern.
»Ich flehe Euch an …«
»Seht Ihr, wie es einem ergeht, wenn der Stahl näher rückt?« Charpentier nickte, so gut es ging. »Genau das wird auch die Frau Eures Schreiberling-Bruders verspüren, bevor ich ihr den Schwanenhals durchtrenne.«
Charpentiers Herz schlug schneller.
»Das könnt Ihr nicht tun …«
»Vielleicht vergnüge ich mich auch eine Weile mit ihr, bevor sie daran glauben muss. Sie ist schließlich noch recht ansehnlich. Und dann kommt Euer Bruder an die Reihe und … Habe ich irgendjemanden vergessen? Euer Neffe Matthieu hat sich ja schon selbst ins Verderben gestürzt. Der wird die Bastille nicht mehr lebend verlassen.«
»Mein Gott, das ertrage ich nicht länger …«
Der Meuchelmörder ließ das Schwert sinken.
»Kehrt nach Paris zurück und macht Euch an die Arbeit. Und denkt gar nicht erst daran, Euch das Leben zu nehmen! Ich bezweifele zwar, dass Ihr zu so einer Entscheidung den Mut hättet, aber Ihr solltet dennoch wissen, dass die Mitglieder Eurer Familie auch in diesem Fall verdammt sind. Ich werde sie finden, wo auch immer sie sich verbergen, und einen nach dem anderen in Eurer Grab werfen.«
»Das ist doch Wahnsinn … Wie soll ich denn ohne Hilfe des Seemanns die Melodie korrekt niederschreiben?«
»Seid Ihr etwa nicht der beste Komponist Frankreichs?«, hielt ihm der andere wütend vor. »Ihr habt alle Informationen, die er Euch gegeben hat, und Euren genialen Verstand, um den ursprünglichen Entwurf zu variieren. Und Ihr habt so viel Zeit, wie Ihr braucht, um eine Million Partituren zu verfassen, bis Ihr auf die richtige stoßt. Stellt meine Geduld nicht auf die Probe!«
Charpentier konnte nicht fassen, was er da hörte. Er freute sich nicht einmal darüber, noch am Leben zu sein.
»Welche Frist bleibt mir genau?«
»Es reicht, wenn Ihr die Melodie vor der Tagundnachtgleiche im März fertigstellt«, erklärte der Mann gelangweilt und wandte sich ab, um zu gehen. »Ihr werdet von uns hören.«
Bis zu diesem Datum war es noch einige Monate hin. Newton führte seine großen alchemistischen Experimente schon zu Beginn des Frühlings durch, daher bedeutete diese Forderung wohl, dass ihnen ein wichtiges alchemistisches Detail bislang entgangen war.
»Wartet!«, wagte Charpentier noch zu rufen. »Warum vor dem Äquinoktium?«
Der Meuchelmörder kam bestimmten Schrittes zu ihm zurück und zog dabei das verwundete Bein nach. Der Komponist duckte sich wie ein scheues Tier.
»Ihr solltet dankbar sein, dass ich mich überhaupt so großzügig zeige«, geiferte der Mann nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. »Ihr führt Eure Aufgabe besser aus, oder ich schneide Euch die Finger ab wie Eurem Neffen Jean-Claude. Stellt Euch nur ein Leben ohne Eure Orgel vor. Und mit all den Toten auf dem Gewissen …«
Charpentier wollte etwas erwidern, der Mann ließ es aber nicht zu. Gekonnt wirbelte er das Schwert herum und versetzte ihm mit dem Griff einen brutalen Schlag. Ein Blick nach allen Seiten bestätigte ihm, dass sich auf dem Friedhof niemand mehr befand, der sie hätte belauschen können, und dann verschwand er humpelnd zwischen den Gräbern. Den Komponisten ließ er in seinen eleganten Kleidern im Schweinedreck liegen.
19
D as Schloss der Kerkertür wurde quietschend aufgesperrt. Mit steifen Gliedern erhob sich Matthieu.
»Zieh das an«, befahl der Wärter
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