Das geheime Lied: Roman (German Edition)
einer Dienstmagd, die einen Sonnenschirm über sie hielt.
»Du bist ja wach!«, rief sie erfreut.
»Wo sind die Neger aus der ersten Zelle?«
»Was ist denn passiert?«
»Sag mir nur, wo wir sie finden«, drängte der Kapitän mit ernster Stimme.
»Ich habe gerade einen Posten an ein holländisches Schiff verkauft. Sie hatten es eilig, aber keine Sorge, sie haben gut gezahlt.«
»Hat man sie durch ›die Tür‹ verschifft?«
»Nein, ich musste sie auf die andere Seite der Insel bringen lassen. Ihr Frachter hat heute Morgen ganz in der Nähe von deinem geankert, ihre Boote lagen noch am Strand. Was hast du denn bloß? Willst du mir jetzt vorschreiben, wie ich meine Geschäfte führen soll?«
»Wir müssen aufbrechen.«
»So plötzlich?«
Der Kapitän zog Serekunda beiseite, und die beiden begannen zu streiten. La Bouche versuchte, sie festzuhalten, damit sie ihn ansah, sie aber riss sich mit einem Ruck von ihm los, obwohl ihr brodelndes Mulattenblut schon langsam abkühlte. Nachdem sie seinen Worten einen Augenblick lang mit gesenktem Kopf gelauscht hatte, nötigte sie ihn noch zu einem letzten Kuss, bevor sie sich am Geländer der Treppe abstützte.
»Komm bald zurück und bleib diesmal für immer bei mir!«, flehte sie. Die Arroganz war nun völlig aus ihrer Stimme verschwunden. »Das hast du bei deinem Leben geschworen.«
Der Kapitän warf ihr einen innigen Blick zu, auf den sie mit einem verliebten Lächeln antwortete, welches sie nicht zu verstecken versuchte. Die Bediensteten sollten lieber eine solche Szene mitbekommen, als sie eine einzige Träne vergießen zu sehen. Der Kapitän nahm augenblicklich wieder seine typisch unnahbare Haltung an.
»Also, auf zum Hafen«, bestimmte er und schritt eilig an Matthieu vorbei.
Sie überquerten die Insel in Begleitung der drei Leibwächter und erreichten den Anlegeplatz am Strand. La Bouche ging zu dem Wachhäuschen hinüber, in dem die gleichen Soldaten wie am Vortag Dienst hatten, und kehrte bald zurück.
»Wir kommen zu spät«, erklärte er. Er zeigte auf eine Reihe Boote, die sich in etwa hundert Metern Entfernung vom Ufer entfernten. »Sie sind bereits zu ihrem Schiff aufgebrochen.«
»Wir könnten sie immer noch erreichen …«
»Vergiss den Sklaven. Ich will keinen Ärger mit den Holländern.«
In diesem Moment waren auf einmal Schreie aus einer der vier Barken zu hören. Am Ufer hielten alle inne und sahen zu ihnen hinaus.
»Irgendetwas ist da nicht in Ordnung«, knurrte der Kapitän.
Die Schreie kamen aus dem letzten Boot. Einer der Sklaven, der im hinteren Teil des Bootes saß, schien etwas zu rezitieren, als hielte er mit lauter Stimme eine markerschütternde Rede. Die anderen wurden mit einem Mal unruhig. Die Händler schlugen mit Ruten auf sie ein, die Wut der Gefangenen wurde aber immer größer, denn die Worte des Aufrührers wirkten berückend. Die Sklaven streckten die Arme gen Himmel, ließen die Hände erzittern und heulten laut.
»Wenn das Boot kentert, werden sie alle sterben …«, murmelte Matthieu.
Der Sklave zerrte an den Ketten und stand auf. Zwei Holländer richteten ihre Waffe auf ihn. Im Nachbarboot erteilte derjenige, der der Chef der Gruppe zu sein schien, den Befehl, nicht zu schießen. Wenn sie abdrückten und der Mann ins Wasser fiel, würde er alle anderen mit sich reißen. Also kletterten die Niederländer im schwankenden Boot zu ihm herüber, um ihm zunächst die Fesseln abzunehmen. Mit weit ausgebreiteten Armen rief der Sklave weiter seine Parolen hinaus und ertrug dabei mit schier übermenschlichen Kräften das Gewicht der Ketten, während seine tiefe und betörende Stimme immer lauter wurde.
»Das ist ein Griot …«, murmelte neben Matthieu ein französischer Matrose, dem ein Auge fehlte.
»Wie bitte?«
»Ein Griot«, wiederholte der Mann. »Die gehörten im alten Malireich zur Kaste der Poeten.«
Die Griots waren in der ganzen Region bekannt. Sie spielten nicht nur mehrere Instrumente und sangen Loblieder auf ihren Herrscher, sondern waren auch politische Ratgeber und bewahrten die Erinnerung an die Geschichte ihres Stammes, um sie an zukünftige Generationen weiterzugeben, so dass die Mythen und Legenden ihres Volkes nicht in Vergessenheit gerieten.
Matthieu erkannte ihn wieder.
»Das ist der Sklave, der mich gerettet hat!«
»Was sagst du da?«
»Der Griot ist der Sklave, den wir suchen! Wir müssen ihn da rausholen!«
»In einer Minute haben ihn die Haie verspeist!«, lachte der
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