Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Einäugige.
»Er ist der Einzige, der den Angreifer gesehen hat …«, rief Matthieu La Bouche in Erinnerung. Auch der Kapitän schien von den beschwörenden Worten, die die Bucht erfüllten, völlig gebannt zu sein.
»Ich habe dir doch gesagt, dass uns die Hände gebunden sind«, beteuerte der Kapitän, schien aber plötzlich aus seiner Erstarrung zu erwachen. »Komm mit zu unserem Boot.«
Musste Matthieu etwa den Mann, der ihm erst vor wenigen Stunden das Leben gerettet hatte, vor seinen Augen sterben lassen? Es lief ihm kalt über den Rücken. Auf einmal begann er, eine Art Trauermarsch zu vernehmen, das Rasseln von Ketten im Takt kurzer Schritte auf dem Anleger, die dumpfen Schreie der Sklavinnen, die von ihren Kindern getrennt waren, das Murmeln jener, die zum letzten Mal die Götter ihrer Vorfahren anriefen. Matthieu zögerte nicht. Er rannte auf das Ufer zu und warf sich ins Wasser.
»Warte!«, brüllte der Kapitän. »Komm zurück! Matthieu!«
Der junge Mann beachtete ihn gar nicht. Er schwamm zu einem kleinen Boot, das etwa zwanzig Meter vom Strand entfernt an ein paar Felsen befestigt war. Er kletterte hinein, löste den Strick und begann mit aller Kraft rückwärts auf die holländischen Kähne zuzurudern. In der Zwischenzeit gelang es den Händlern, über die anderen Sklaven hinwegzusteigen, und sie erreichten den Griot. Dieser wehrte den ersten mit einem heftigen Schlag ab, der den Mann ins Wasser stürzen ließ, deshalb drückte der zweite aus nächster Nähe ab. Als Matthieu den Schuss vernahm, wandte er sich um.
»Gott, nein!«
Er ruderte ohne Unterlass weiter. Der Holländer löste die Ketten des Griot. Sein Kamerad kroch zurück ins Boot, und gemeinsam warfen sie den Afrikaner ins Wasser. Die anderen Sklaven heulten wie von Sinnen. Matthieu drehte immer wieder den Kopf. Er sah den Mann zunächst auf dem Wasser treiben und dann ohne jeden Widerstand untergehen. An der von Wellen aufgewühlten Oberfläche war ein roter Blutfleck zu sehen. Matthieu schaute sich nach links und rechts um. Da erblickte er auch schon die ersten Rückenflossen, die zunächst in einiger Entfernung verharrten, dann jedoch direkt auf die Stelle zuhielten. Der Musiker war nicht mehr weit entfernt, wenn er weiterruderte, würde er die Stelle aber niemals rechtzeitig erreichen. Also stand er auf und sprang ins Wasser. Er schwamm, so schnell er konnte, und tauchte in die Blutwolke hinein.
Jetzt vernahm er nur noch dumpf die Schreie der Holländer und das Heulen der Sklaven. Im Wirbel der Luftbläschen streckte er den Arm aus und erwischte den Griot am Handgelenk. Er war unglaublich schwer und riss ihn mit in Richtung Meeresgrund. Nach und nach verschluckte die Dunkelheit Matthieu, und seine Ohren begannen zu schmerzen. Langsam verließen ihn seine Kräfte, und er hätte den Mann beinahe losgelassen … Doch dann dachte er daran, dass an seinen Händen schon das Blut seines Bruders klebte, dessen Tod er nicht hatte verhindern können. Noch einmal wollte er dies nicht erleben müssen. Mit einem Wutschrei stieß er das letzte bisschen Luft aus, das seiner Lunge noch blieb, und zog mit aller Kraft, während er mit den Füßen und dem anderen Arm wedelte und den Sklaven dabei bewegte, als sei auch er ein Teil seines Körpers. Es waren die längsten Meter seines Lebens. Seine Schläfen drohten schon zu platzen, als er endlich den Kopf aus dem Wasser steckte. Den Griot hielt er am Kinn fest. Er machte sein Boot aus und stellte dabei fest, dass die Holländer zu schreien aufgehört hatten. Von ihren Booten aus beobachteten sie ihn mit erstarrter Miene und warteten ab, was nun wohl geschehen würde. Dem Geiger wurde auch sofort klar, warum. Zwei Haie hatten ihn fast erreicht und drehten nun schnell ihre Kreise, um sich die beste Angriffsposition zu sichern. Einen Moment lang glaubte er, dass alles verloren sei. Dann hörte er die Schüsse. Es waren Kapitän La Bouche und die drei Wachen, die aufrecht in einem Boot standen. Er schwamm auf sie zu, den Griot im Schlepptau. Sie luden nach und feuerten wieder einen Schuss ab, aber die verwundeten Haie folgten Matthieu noch immer und hinterließen im Wasser eine Blutspur. Der Geiger half den Ruderern, den Sklaven ins Boot zu hieven, ihm selbst blieb jedoch keine Zeit mehr, um sich zu retten. Er drehte sich ein letztes Mal um und sah, wie nur wenige Meter von ihm entfernt ein riesiges Maul mit messerscharfen Zähnen klaffte. Er schloss die Augen und rollte sich zusammen, machte sich in
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