Das geheime Lied: Roman (German Edition)
hineinzugehen. Er taumelte voran und hielt sich dabei mit beiden Händen den Bauch, um das Brennen in der Magengrube zu unterdrücken. Er war entsetzt, als er feststellen musste, dass sich trotz des beengten Raumes in jeder Zelle um die fünfzig Schwarze befanden. Auf einmal umfing ihn eine Mischung aus Wimmern und schläfrigem Wehklagen. Die Sklaven waren aneinander festgekettet, Männer und Frauen gemeinsam, sie hockten mit angezogenen Beinen da und hatten keinen Platz, die Gliedmaßen auszustrecken. In einer separaten Zelle in einem angrenzenden Gang drängten sich die Kinder. Die Händler hielten sie von den Müttern fern, damit diese ihr Weinen nicht unterscheiden konnten, weil dies ihr Leiden nur noch vergrößerte, und zwar so sehr, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte und man sie billiger verkaufen musste.
Die leeren Blicke der Sklaven vermischten sich in Matthieus Kopf mit immer brutaleren Szenen. Bald fiel es ihm schwer, Realität und Trugbilder auseinanderzuhalten. Er klammerte sich an die Gitterstäbe, die ihm am nächsten waren, und ließ sich wieder auf die Knie fallen. Sein Gesicht war nun nur noch wenige Zentimeter von dem eines kräftigen Schwarzen entfernt, der ihn mit erstaunlicher Gefasstheit von der anderen Seite her ansah. Matthieu, der das Brennen in der Magengrube kaum noch ertragen konnte, stellte sich dem ruhigen Blick des Afrikaners, den aufgeplatzten, fleischigen Lippen und den blutroten Venen, die den weißen Grund seiner Augen durchbrachen. In diesem Moment schreckte der Sklave auf. Er machte eine hastige Bewegung, und Matthieu drehte sich weit genug um, um den Schatten eines Mannes mit erhobenem Arm zu erkennen. Er warf sich rasch zur Seite und konnte so gerade noch einer riesigen hölzernen Keule ausweichen, die gegen die Metallstäbe prallte und den ganzen Gang vibrieren ließ. Der Angreifer versuchte, erneut damit auszuholen, der Sklave zog jedoch an den Ketten, die ihn mit seinen Leidensgenossen verbanden, steckte den Arm durch das Gitter und hielt den Knüppel fest. Die beiden Männer begannen ein Handgemenge. Matthieu nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurichten. Der Angreifer versuchte ihn aufzuhalten, der Sklave presste sich jedoch gegen die Zellentür, packte den Mann am Fuß und brachte ihn zu Fall. Bevor er zu Boden stürzte, griff dieser nach Matthieus Rock, der junge Musiker konnte sich jedoch losreißen und rannte auf den Hof. Er hetzte die Treppe bis zur Galerie hinauf, stürzte ins Esszimmer und brach vor dem Tisch zusammen.
»Matthieu! Was ist passiert?«
»Kapitän …«
Er versuchte, die Geschehnisse zu erklären, konnte aber nur noch stammeln.
»Gift!«, schrie Serekunda.
»Was?«
»Sieh dir doch seine Augen an!«
Die Hausherrin kannte die Symptome gut. Sie wusste, dass man auf Gorée gegen entsprechende Bezahlung ein Fläschchen mit dem Gift einer Schlange aus der Savanne kaufen konnte, das selbst einen Büffel zu Fall brachte. Bald würden Krämpfe und Atemprobleme einsetzen. Die Mulattin rief lautstark nach der Köchin, die augenblicklich erschien. Sie sah furchtbar erschrocken aus, genau wie die beiden Dienerinnen, die im Türrahmen standen und sich die Hände vors Gesicht hielten, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Was hast du ihm ins Essen gemischt?«, fuhr Serekunda ihre Köchin an.
»Nichts!«
»War das für den Kapitän bestimmt? Wer hat dich bezahlt, um ihn zu vergiften?«
»Ich habe nichts ins Essen getan, Madame! Das schwöre ich!«
Serekunda versetzte ihr eine Ohrfeige. Im selben Augenblick waren die Rufe einer anderen Dienstmagd zu hören, die draußen auf der Galerie stand. Sie zeigte nervös auf den Eingang zum Hof und wiederholte ein ums andere Mal, dass dort gerade jemand durch das Tor verschwunden war.
»Wer?«, schrie Serekunda jetzt noch lauter.
»Die Neue aus dem Stamm der Wolof.«
»Von wem redest du da?«
»Von der, die die Zellen saubermacht.«
Die Mulattin wandte sich zur Köchin um, die zitternd im Türrahmen lehnte.
»Hat sie sich bei den Töpfen herumgetrieben?«
»Madame …«
»War das Wolof-Mädchen bei dir in der Küche? Ich will nicht noch einmal fragen müssen!«
»Ja …«
»Wie konnte es bloß glauben, damit ungestraft davonzukommen?«, sagte der Kapitän zu niemand Bestimmtem. »Es muss noch jemand dahinterstecken, ein Drahtzieher.«
»Mir ist egal, wer dahintersteckt. Die Wolof hat ihr Leben jedenfalls verwirkt!«, sprach Serekunda ihr Urteil.
»Ich will sie zuerst verhören«, wandte ihr
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