Das geheime Lied: Roman (German Edition)
ich werden auf Madagaskar von Bord gehen, mit dem Musiker oder ohne ihn!«
Der Griot hatte auf die Geschehnisse auch kein neues Licht werfen können. In der Hoffnung, ihn so zum Reden zu bringen, hatte La Bouche ihm die Ketten abnehmen lassen, der schwarze Hüne hatte sich aber nicht ein einziges Mal an Deck gezeigt. Er blieb Tag und Nacht in der Kammer, in der sich die anderen Sklaven drängten, die in Gorée an Bord gekommen waren. Mit dem Gesicht zur Wand lag er in diesem Lagerraum mit der niedrigen Decke wie ein Stück Ebenholz, das man dort zwischen Pökelfisch, Säcken mit Hülsenfrüchten und Gemüse, streng riechendem Käse und hartem Gebäck hingeworfen hatte. Matthieu stieg oft hinab, um sich an seiner Seite niederzulassen. Dort fühlte er sich sicher. Es konnten Stunden vergehen, ohne dass der Mann ihn auch nur eines Blickes würdigte. Also beobachtete er einfach nur, wie sich die Sanduhr an der Wand leerte, die er immer wieder umdrehte, weil ihn das Flüstern der Körnchen beruhigte, die ihren Weg in der Menge suchten. Die anderen Sklaven hatten sich bald an seine Anwesenheit gewöhnt: Nach der Seekrankheit der ersten Tage hatten sie das Schaukeln des Bootes und das ständige Rasseln der Ketten inzwischen in einen dauerhaften Zustand der Lethargie versetzt. Der Musiker konnte den Verwesungsgestank kaum ertragen. Wenn er wieder an Deck kam, entschädigte ihm dafür der Anblick paradiesischer Landschaften am Ufer.
Diese Fantasiewelten gaben ihm Auftrieb, sie allein ließen ihm in diesem schwimmenden Gefängnis, in dem er sich einsam und bedroht fühlte, das Leben lebenswert erscheinen. Die Aventure umrundete weiterhin den Kontinent in Richtung Kap der Guten Hoffnung, und mit jedem neuen Tag durchquerten sie ein völlig anderes Szenario. Matthieu sah unbändige Urwälder, die selbst die Strände überwucherten, Steilküsten, die sich wie die uneinnehmbaren Mauern einer Festung erhoben, riesige Dünen direkt am Wasser, die auf der einen Seite in intensivem Orange die Sonne reflektierten, auf der anderen Seite in tiefschwarzem Schatten dalagen.
Eines Tages vernahm er jedoch ein bedrohliches Murmeln, das vom Meer herrührte, eine Art niemals verstummendes Stöhnen, das ihm zuraunte: »Komm zu mir, tauch ein in die ewige Musik, die schon die Ohren deines Bruders erfüllt.«
Es gab einen Grund für dieses Delirium: Einer der Sklaven hatte ihn mit dem Fieber angesteckt. Das Leben an Bord wurde nun endgültig unerträglich: das klaustrophobische Schweigen der Matrosen, die seltenen, aber von ihrer komplexen Beziehung geprägten Zusammentreffen mit dem Kapitän und Menschenhändler La Bouche und nun auch noch der Verrat durch sein eigenes Gehirn, zerfressen von einer Krankheit, die einen durch den Giftanschlag auf Gorée bereits geschwächten Körper heimsuchte.
Er blieb vier Tage lang in seiner Kajüte im Bett, während das Essen auf dem Tisch vor sich hin rottete, schwitzte ohne Unterlass, hielt sich die Arme vors Gesicht, um die Lichtreflexe der geschliffenen Blumen im Bleiglasfenster abzuwehren. Am fünften Tag erwachte er im Morgengrauen, stand auf und trat mit schweißnassem Hemd an Deck. Er stützte an Steuerbord die Ellbogen auf der Reling ab und war kurz davor, dem Stöhnen des Ozeans nachzugeben und sich in die Fluten zu werfen, die ihn wie ein türkisblaues Paradies dünkten. Aber dann riss ihn etwas aus seiner Halluzination. Das Meer zeigte seine verborgene Seite: Es wurde plötzlich schwarz wie ein bodenloser Abgrund, und dann brach nach ohrenbetäubendem Donner ein Gewitter los.
Matthieu hatte noch nie zuvor solchen Regen erlebt, er prasselte aus allen Richtungen gleichzeitig. Der Musiker verließ die Reling und klammerte sich an ein armdickes Tau. So verharrte er eine Stunde lang in derselben Position, doch sie kam ihm eher vor wie mehrere Tage. Durch den Nebel des Fiebers hindurch betrachtete er, wie die anderen alles Menschenmögliche taten, um zu verhindern, dass das Schiff auf den Grund des tobenden Ozeans gezogen wurde. Der bleierne Himmel riss auf, und für den Bruchteil einer Sekunde erhellten Blitze die verzerrten Gesichter der Besatzung. Die Matrosen riefen sich gegenseitig verzweifelte Anweisungen zu. Man konnte nicht mehr gerade stehen. Das spritzende Salzwasser brannte in den Augen. Die Männer stießen Verwünschungen aus, während der Wind voller Wut toste. Es war, als ob um sie herum auf einmal die Hölle losgebrochen war und unter den Wellen glühte. Eine riesige Woge hob den Bug
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