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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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es gelang ihm aber, sich festzuklammern und aus eigener Kraft am Seil hochzuklettern, obwohl er unter den Schmerzen der immer noch nicht verheilten Wunde litt. Oben angekommen, hievten ihn zwei schwarze Mitglieder der Besatzung an Deck. Das Salzwasser glitt an seinem Ebenholzkörper herab, als hätte er sich mit Walöl eingerieben. Die Mannschaft betrachtete sprachlos seine mächtige Statur.
    »Jetzt habe ich ja meine Beute«, rief Misson spöttisch.
    Catroux sah La Bouche unverwandt an und betete zum Himmel, der Kapitän möge sich nicht zu sehr auf sein Glück verlassen und etwas Angemessenes antworten.
    »Was werdet Ihr nun tun?«, fragte dieser lediglich mit einnehmender Ungezwungenheit.
    »Ich werde abdrehen, ohne das Feuer zu eröffnen«, erklärte der Pirat in demselben Tonfall. »Ich will nicht mit Euch gemeinsam in den Fluten versinken.«
    Der Plan hatte funktioniert.
    »Und danach?«
    »Fürchtet Ihr etwa, ich könnte es auf Euch abgesehen haben und zurückkehren, sobald ich in einer besseren Angriffsposition bin?«
    Er schien wirklich Gedanken lesen zu können.
    »Ich habe meinen Männern erklärt, dass Ihr ein Gentleman der Meere seid«, erklärte La Bouche.
    Misson lachte zufrieden.
    »Falls Ihr es bereuen solltet, mein Angebot abgelehnt zu haben, fahrt zum alten Schiffsfriedhof in Sainte Luce und haltet nach Caraccioli Ausschau. Ich erneuere meine Seekarten von Madagaskar, und er ist damit beschäftigt, den Verlauf der Vanilleküste festzuhalten, deshalb muss er früher oder später dort vorbeikommen.«
    »Gebt besser acht, dass sich unsere Wege nicht erneut kreuzen!«, rief La Bouche jetzt wesentlich entspannter.
    »Guter Wind und gute Jagd!«, verabschiedete sich Misson, bevor er auf das Deck seines Schiffes sprang.
    Matthieu war noch immer wie verzaubert vom Anblick der Frau mit der Kupferhaut, warf nun jedoch dem Griot einen Blick zum Abschied zu. Dieser richtete die Augen gen Himmel und stimmte eine kurze Melodie an, rau und ruhig wie die Hände eines alten Mannes. Der Gesang umfing beide Schiffe. Mit einer schnellen Bewegung hielt sich die Frau die Ohren zu und lief plötzlich wie beschämt zurück zur Kabine.
    »Geh nicht …«, flüsterte der junge Musiker.
    Kapitän Misson gab Anweisungen, die Aventure zu wenden. Matthieu schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, wandte ihnen die Victoire ihr Heck zu und entfernte sich in Afrikas roséfarbenem Abendlicht in Richtung Horizont.

8
    D ie Nacht brach herein. Zwischen zersplitterten Masten und zerrissenem Segeltuch ging Matthieu noch immer an Deck auf und ab. Die Schreie der sterbenden Matrosen fanden aus der Ferne einen Weg in seine Gedanken, die jedoch von den Augen der Eingeborenen an Deck der Victoire dominiert wurden. Er wollte beinahe glauben, dass dies alles nur seiner Fantasie entsprungen sei. Was war das nur mit diesem Meer, auf dem alles von den Göttern begünstigt zu sein schien: der Mut der Männer, die Ehre der Kapitäne und die Schönheit, die sich voller Erhabenheit auf dem Antlitz dieser geheimnisvollen Frau im weißen Hemd zeigte? Er war sich dessen bewusst, dass er in eine neue Welt vordrang, ein Universum der Vorstellungskraft, welches auf keiner Seekarte verzeichnet war.
    Am Himmel schien sich etwas zu regen. Er stützte sich auf der Reling ab und sah hinauf. Ein riesiger orangefarbener Ball trat zwischen den Wolken hervor und warf einen Lichtstreifen über das Meer, der wie eine Flamme zitterte und glitzerte, bis er den Rumpf des Schiffes erreichte.
    La Bouche näherte sich dem jungen Musiker langsam. Zwischen den Masten wirkte er wie ein Schatten.
    »Jetzt hast du Wasser und Salz geschluckt«, bemerkte er mit einem Mal äußerst freundlich.
    »Was meint Ihr damit?«
    »Das Meer gibt und nimmt.«
    »Ich kann mich nicht einmal mehr an all das erinnern, was uns seit der Abfahrt in La Rochelle widerfahren ist.«
    »Du hast dir das alles sicher anders vorgestellt.«
    »Ich war davon überzeugt, dass die Zeit unser einziger Feind ist.«
    »Es wird dir gelingen, die Melodie niederzuschreiben, und wir werden zum vorgesehenen Zeitpunkt zurück in Paris sein.«
    Angenehm überrascht wandte Matthieu sich wieder dem Meer zu.
    »Das scheint gar nicht der gleiche Mond wie in Frankreich zu sein.«
    »Die ersten arabischen Kartographen tauften Madagaskar auf den Namen ›Mondinsel‹.«
    Der Musiker konnte nicht anders, er musste das Thema einfach anschneiden: »Diese Frau …«
    »Wen meinst du?«
    »Die auf dem Deck der Victoire

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