Das geheime Lied: Roman (German Edition)
betraten.
Der Geiger schloss die Augen und versank in ein paralleles Universum, das in seinen Ohren explodierte. Er hörte die gierigen Wellen brechen, wie ihr Schaum sich genüsslich über dem Strand ausbreitete, die Spitzen der Palmwedel trommelten wie eine Legion von Insekten, die ihre Beinchen aneinanderrieben, er vernahm, wie sich die Baumstämme dem Wind ergaben …
Matthieu überkam eine nur schwer zu beschreibende Rührung, gleichzeitig aber auch eine gewisse Unruhe, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Nun hatte er endlich diese Insel erreicht, die so groß war wie Frankreich und von mehr Zauber erfüllt als die unvergleichlichen Reiche, die Odysseus bei seiner Rückkehr nach Ithaka durchquert hatte, und auf einmal überkam ihn große Lust zu weinen. Jener Garten Eden verbarg eine Präsenz, ein Pochen … Einen Herzschlag! Auf einmal war ihm alles klar. Er vernahm die Kraft eines einzigen Herzens, ein immer wieder aufkommendes Klopfen, das aus der Erde emporstieg und im Himmelsgewölbe widerhallte, welches die Insel am Leben erhielt und schneller schlug, als sich ihm nun das Schiff näherte. Es schien sie anzuflehen – oder ihnen vielleicht warnend zuzurufen –, doch besser abzudrehen.
»Was tun wir hier bloß?«, stöhnte Matthieu.
Ihm kam es vor wie Minuten, in Wirklichkeit aber umrundete der Schoner stundenlang die Südseite der Insel. Er konnte den Blick nicht von der Aussicht an Backbord losreißen. Am Nachmittag überraschte ihn dann der Ruf von Bootsmann Catroux: »Da ist es!«
La Bouche stieg in Windeseile die Stufen zum Achterkastell hinauf.
»Ich hatte schon gedacht, dass wir diese Bucht niemals erreichen würden.«
Matthieu folgte ihm, stellte sich neben das Ruder und betrachtete den Strand und die von Pflanzen überwucherte Felswand.
»Ist das Fort Dauphin?«
»Das, was seit der letzten Schlacht noch davon übrig ist.«
Auf dem Kliff rotteten die Reste der Bastion vor sich hin: zerstörte Mauern, verrostete Kanonen und das Echo vergangener Schlachten, der Widerhall brennender Pfeile und Körper, die ins Meer stürzen.
Matthieu fiel La Bouches ausdruckslose Miene auf. Die Seeleute drängten sich an Deck. Sie verstummten. Wieder hallte Catroux’ Stimme über das ganze Schiff.
»Anker werfen!«
Matthieu verspürte in der Brust das Wehklagen der Insel.
Ihr verstummtes Herz.
9
K aum waren sie an Land, erklomm La Bouches Soldatentrupp den Felsvorsprung. Die zwölf Männer wählten eine geschützte Ecke, um dort ein kleines Lager einzurichten, und legten fest, wer als Wache welche Schicht übernehmen würde. Die wenigen Mauern, die sich dem Feuer und der Wut der Anosy widersetzt hatten, ragten auf ihrer strategischen Position mit einer gewissen Würde in den Himmel. Zunächst einmal wurden vor allem Palmen gefällt, um die Schäden am Schiff zu reparieren. Niemand wollte es zugeben, aber die bloße Tatsache, dass sie dazu den verfluchten Sandstrand dieser Insel betraten, versetzte alle in Panik. Die Matrosen wollten nur noch Kurs auf Bengalen nehmen und diesen verrückten Musiker, der das Unwetter anbrüllte, hier zurücklassen.
La Bouche warf einen kurzen Blick auf die Überreste des Forts. Zehn Jahre nach der letzten Schlacht fraßen die Reste des Pulvers noch immer an den Mauern des Gebäudes. Mit einer Hand voll Matrosen zog sich der Kapitän an ein Ende des Strandes zurück und begrub dort die fünf Männer, die durch die Warnschüsse der Victoire ums Leben gekommen waren. Es bereitete ihm Sorgen, dass sich unter den Opfern der madagassische Eingeborene befand, der sie bei der Expedition eigentlich als Übersetzer begleiten sollte.
Matthieu hatte die Nase voll davon, dass man ihm jedes Mal den Rücken zukehrte, wenn er mit anpacken wollte, also beschloss er, auf einer hier und da mit Gestrüpp bewachsenen Düne Platz zu nehmen. Er hatte eigentlich gedacht, er würde sich dort zufrieden zurücklehnen können, ihn quälte jedoch die gleiche Unruhe wie alle anderen. Zwar suchten ihn nicht wie La Bouche Geister vergangener Zeiten heim, und er war auch nicht starr vor Angst wie die Seeleute. Aber er musste einfach wissen, wo er nun ansetzen sollte. Er hasste es, Situationen nicht unter Kontrolle zu haben, und noch viel mehr, sich so hilflos zu fühlen. Ganz offensichtlich war diese Insel nicht wie Gorée, das mit Bougainvilleaen geschmückte Eiland, auf dem Blutspuren im Sand den Weg wiesen. Der Musiker sah sich um. Hier lag ein seltsames, süßliches Aroma in der Luft, als wäre es
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