Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Schutz. Zusammengerollt blieb Matthieu in dem Gewirr aus Tauwerk, Segeltuch und Holzstückchen an Deck liegen und ertrug das Schwanken des Schiffes.
»Harrt noch aus!«, brüllte La Bouche. »Schießt nicht!«
Der Geiger hob ein wenig den Kopf und sah, wie auf der Victoire einige Mitglieder der Besatzung Enterhaken vorbereiteten und an Steuerbord bereit zum Angriff in die Rahen und Wanten kletterten. Misson ordnete an, von den Marssegeln aus das Deck mit Gewehren unter Beschuss zu nehmen. Und wieder regnete es ringsumher messerscharfe Holzsplitter. Matthieu war außer sich vor Angst. Er musste den verstümmelten Körper des Zweiten Steuermanns beiseiteschieben, der von der Brücke aus auf ihn herabgestürzt war. In diesem Moment, als die Enterung unmittelbar bevorstand, ertönte La Bouches Befehl, der über Meer und Wind hinweg zu vernehmen war.
»Jetzt! Öffnet die Luken!«
Kapitän Misson, der alles vom Besanmast seines Schiffes aus beobachtete, konnte es kaum fassen. Als er schon glaubte, die Arbeit dieses Tages beinahe routiniert erledigt zu haben, wurde er auf einmal von zwanzig Kanonen überrascht, die aus wenigen Metern Entfernung auf ihn gerichtet waren. Neben jedem Geschütz stand ein Artillerist mit entzündeter Lunte. Ihm war sofort klar, was hier vor sich ging. Wie hatte er nur so gutgläubig sein können? Ohne den Blick von La Bouche abzuwenden, der neben den Resten einer Saling hoch aufgerichtet dastand und dem Blick des Piraten trotzte, gab Misson den Befehl, nicht zu schießen.
Du wirst es doch wohl nicht wagen …, dachte der Korsar, während sein zweiter Mann ihn beobachtete und sich fragte, warum er denn nicht handelte. Alle Piraten respektierten die Regel, ohne die Meinung des zweiten Mannes an Bord keine wichtige Entscheidung zu treffen, in diesem Moment wussten aber beide, dass ihnen keine Zeit für Diskussionen blieb. Du wirst es doch wohl nicht wagen …, sagte sich Misson immer wieder und versuchte, in den Augen seines Gegners auch nur die kleinste Reaktion erkennen zu können.
»Stell mich doch auf die Probe«, murmelte La Bouche, als hätte er seine Gedanken gelesen.
Einige Sekunden lang war nichts weiter zu vernehmen als das Rauschen des Meeres, das dumpfe Knarzen aus dem Laderaum und das Wehklagen der Verletzten, die man unter Deck brachte, um sie dort zu versorgen. Die Artilleristen harrten aus und hielten die Flamme zum Feuern bereit dicht an die Zündschnur. Die Toten hatte man zur Seite geschafft, damit ihre Leichen nicht im Weg waren. Weiter unten arbeiteten Schreiner daran, ein Leck abzudecken, das eine verirrte Kugel an Steuerbord in die Bugsprietbacke gerissen hatte und durch welches Wasser in den Kielraum drang. Die beiden Schiffe näherten sich einander immer mehr, sie schaukelten hin und her wie Pendel. Die Entfernung zwischen ihnen war jetzt so gering, dass Matthieu befürchtete, die Masten würden jeden Augenblick gegeneinanderschlagen.
»Ihr seid geschickt!«, rief Misson endlich von der Victoire herüber und hielt sich dabei an einer Leiter fest, um nicht vom Rand der Reling zu rutschen, auf der er über das Wasser gebeugt stand. »Wisst Ihr, wer ich bin?«
La Bouche nahm dieselbe Haltung ein und war dem Piraten jetzt so nahe, dass es aussah, als würden sie einander berühren, wenn sie die Hand ausstreckten. Er konnte den Blick nicht von der Tätowierung in roter Farbe abwenden, welche die rechte Gesichtshälfte des Seeräubers zierte: Tränen aus Blut quollen unter dem mit Khol umrandeten Auge hervor, ergossen sich über den Wangenknochen, rannen den Kiefer entlang und flossen den Hals hinab.
»Nach so vielen Jahren auf diesen Wassern ist es eigentlich seltsam, dass wir uns noch nie begegnet sind.«
»Warum all die Kanonen?«, rief der Pirat aus. Er schaffte es tatsächlich, seinen Worten trotz der großen Anspannung einen humorvollen Unterton zu verleihen. »Eure Fracht muss ja äußerst wertvoll sein!«
»Im Bauch meines Schiffes werdet Ihr nichts finden, es sei denn, Euch wäre an Hühnern und ein paar elenden Sklaven aus dem Senegal gelegen, um Eure seltsame Besatzung zu verstärken.«
Matthieu fiel auf, dass viele von Missons Männern Afrikaner waren.
»In diesem Fall seid Ihr hier wohl das Wertvollste«, erwiderte der Korsar, ohne auf den Spott einzugehen. »Wie ist Euer Name?«
»La Bouche«, antwortete der Kapitän stolz.
Misson wechselte ein paar Worte mit seinem Maat. Erstaunt wandte er sich wieder an den Kapitän.
»Seid Ihr etwa der La Bouche,
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