Das geheime Lied: Roman (German Edition)
bei einer Zeremonie dem Mörser entflohen. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie hier auf andere Menschen treffen würden. Woher kam bloß diese absurde Idee? Und war sie überhaupt so abwegig? Er warf einen Blick über die Schulter. Die Landschaft, die er jenseits des Forts erblickte, war von dunstigen Schwaden verdeckt. Nur die Spitzen der höchsten Baobabs ragten aus diesem Nebel heraus.
Keine Menschenseele.
Matthieu ließ den Kopf hängen. Eine Weile spielte er unwillkürlich mit dem Sand herum. Er hob eine Hand voll davon auf und ließ die Körnchen vom Wind davontragen. Dann fiel sein Blick auf das Wasser. Seine Gedanken rebellierten und wanderten weit über den Horizont hinaus, auf der Suche nach dem Ort, den die Victoire wohl angesteuert hatte. Wo bist du nur?, fragte er sich. Der junge Geiger hätte alles gegeben, um noch einmal dem Blick der jungen Eingeborenen zu begegnen, ein einziges Mal über das schwarze Haar zu streichen, das ihr bis auf die Brust fiel, und sich das Spiegelbild des Mondes zu eigen zu machen, das auf ihrer dunklen Haut explodierte.
Seit sie in der Bucht vor Anker gegangen waren, hatte La Bouche unaufhörlich Befehle erteilt. Als er Matthieu abseits der Gruppe entdeckte, ging er auf ihn zu. Er schritt lustlos voran und zog die Stiefel nach, die bei jedem Tritt im Sand versanken. Auch wenn er es niemals zugegeben hätte, war er völlig erschöpft. Er setzte sich neben den Musiker, nachdem er den Gürtel mit seinem Schwert und zwei Pistolen abgenommen hatte.
»Siehst du«, sagte er mit Blick aufs Meer. »Wir sind um die halbe Welt gereist, und dennoch ist es derselbe Himmel, dieselbe Erde …«
»Das denke ich nicht«, entgegnete Matthieu. »Es ist weder derselbe Himmel noch dieselbe Erde, so wie wir heute Nacht auch nicht denselben Mond betrachtet haben. Denn wo sind jetzt bloß meine …« Ihm wurde plötzlich klar, dass ihn der Gedanke an die Eingeborene völlig eingenommen und für einige Stunden von dem Bild abgelenkt hatte, welches ihn seit der Abfahrt stets begleitet hatte: seine von Jean-Claudes Tod getroffenen, auf ihren Stühlen zusammengesunkenen Eltern, die nicht ahnten, in welcher Gefahr die ganze Familie schwebte. Er wusste nicht einmal, was er beim Gedanken an sie fühlen sollte.
La Bouche änderte seinen Tonfall.
»Ich kann es gar nicht abwarten, dass endlich der Morgen anbricht und die Aventure ihren Kurs fortsetzt«, erklärte er, während er sich reckte. »Wenn der Usurpator Ambovombe erfährt, dass hier ein Schiff mit solcher Artillerie ankert, wird er sich bedroht fühlen und Horden von Kriegern auf uns hetzen. Uns würde keine Möglichkeit bleiben zu erklären, warum wir eigentlich hier sind.«
»Glaubt Ihr tatsächlich, dass dieser Ambovombe existiert? Seht Euch nur um … An diesem Ort ist doch gar kein Platz für uns Menschen.«
»Was sagst du da?«
»Dieses Gerede stammt nicht von mir, sondern von den Matrosen. Sie erzählen, dass die Anosy-Krieger, die Euch vor zehn Jahren hier vertrieben haben, in Wirklichkeit Dämonen aus der Unterwelt sind, Wesen aus Salzwasser und roter Erde.«
La Bouche sah ihn kurz schweigend an.
»Sobald das Schiff verschwunden ist, machen wir uns auf den Weg ins Innere der Insel«, stellte er klar. »Ich rate dir, nichts auf diese dummen Geschichten zu geben.«
»Dann stimmt es also nicht?«
»Was?«
»Dass auf Madagaskar die Pflanzen hören können und sich die Tiere untereinander mit einem Laut verständigen, der die Menschen in den Wahnsinn treibt.«
»Denk einfach nur daran, dass das Schiff im Nu wieder hier sein wird, du in der Zwischenzeit die Melodie kopiert hast und wir siegreich in die Heimat zurückkehren werden. Der König hat dann, was er will, und du wirst in eines seiner Orchester aufgenommen.«
»Wie kommt Ihr darauf, dass das mein Wunsch ist?«
»Du bist doch Violinist. Was könnte es Erstrebenswerteres für dich geben?«
La Bouche ließ sich rücklings in den Sand sinken und nutzte den Moment, um kurz die Augen zu schließen. Unwillkürlich wischte sich Matthieu den Schweiß aus dem Nacken. Alles schien sich so rasch zu verändern! In diesem Augenblick wollte er nicht an die zarten Harmonien denken, die »die vierundzwanzig Streicher des Königs« im Gleichklang anstimmten, und auch nicht an den Stock, mit dem Lully im Palast leise auf das Podium schlug, damit seine Musiker nicht aus dem Takt kamen. Der Kapitän hatte es ja gerade selbst gesagt: Er war um die halbe Welt gereist, um seine Mission zu
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