Das geheime Prinzip der Liebe
musste an die Luft. Musste laufen. Mein ganzer Körper tat mir weh. Ich fühlte mich zerschlagen. Abgenutzt. Aber in meinem Kopf brannte es. Der Krieg, das war der wahre Krieg. Ich versuchte, den Lärm der Katzen und Hunde zu überhören, die hungrig durch das Dorf irrten. Die Bewohner hatten sie auf ihrer Flucht zurückgelassen. Die Kühe, die seit drei Tagen niemand gemolken hatte, brüllten vor Schmerz. Mir ging es wie ihnen. Meine Brüste taten weh. Die Milch floss an meiner Bluse hinunter.
Vor dem Tor von L’Escalier brach ich zusammen. Ich war dorthin gegangen, ohne nachzudenken. Ich weinte lange. Und rief nach meiner Mutter.
Wochenlang warteten wir darauf, dass sie zurückkam. Ich betete Tag und Nacht, dass es ihr gut ging. Dass sie irgendwo in Sicherheit war.
Jeden Tag kamen Dorfbewohner zurück. Aber niemand hatte sie gesehen.
Nach einiger Zeit machten wir es wie alle. Wir setzten Suchanzeigen in die Zeitungen. Das war das Einzige, was wir noch tun konnten. Aber was sollten wir schreiben? Wir wussten nichts. Weder wann sie weggegangen war. Noch wohin. Auch nicht, wie sie gekleidet war. Das hatte ich versucht herauszubekommen. Maman hatte nur wenige Kleider, ich hätte sehen können, welches fehlte. Aber als ich vor dem klapprigen Schrank stand, stellte ich fest, dass ich ihre Garderobe nicht mehr kannte. Schon Monate vor meiner Abreise hatte ich mich nicht mehr um sie gekümmert, nach der ich mich jetzt so schrecklich sehnte. Man kann dem Leben nicht vorwerfen, dass es dir nimmt, was du nicht mehr beachtet hast.
Wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollten, mussten wir trotzdem irgendetwas in diese Anzeige schreiben. Also gaben wir ihren Namen an. Ihr Alter. Ihr weißes Haar. So weit waren wir uns sicher. Dann das Muttermal am Haaransatz im Nacken. Und sogar ihren abgebrochenen Zahn, den rechten Eckzahn. Ihre Bibel, vielleicht. Das war allerdings nicht mehr sicher. Womöglich hatte sie sie mitgenommen und unterwegs verloren. Und vor allem schrieben wir, dass die Telegrammkosten erstattet werden würden, damit nicht fehlendes Geld verhinderte, dass eine Nachricht zu uns gelangte.
Und dann warteten wir weiter. Bis zu jenem 30. November 1940.
Ich werde dieses Datum nie vergessen, es war nicht lange nach deiner Rückkehr. Auch um dich hatte ich mir Sorgen gemacht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war. Zum ersten Mal nach all diesen Monaten dachte ich: Es wird gut. Es wird gut. Louis ist zurückgekommen. Jetzt wird alles gut. Maman wird auch zurückkommen. Und
dann erhielten wir das Telegramm. Die einzige Nachricht zu ihr, die wir nicht bekommen wollten.
traurige mitteilung stopp eugénie gallois tot stopp bombardement stopp habseligkeiten folgen per post stopp
Wir zweifelten. Wollten es nicht glauben. Noch ein paar Tage. Dann kam das Paket. Ihre Bibel. Ihr Ehering. Etwas Geld. Und der Fingerhut, den ich ihr geschenkt hatte und den sie immer bei sich trug.
Die Gewissheit.
Maman war tot.
Vater und ich hatten bis dahin nicht viel miteinander gesprochen. Von diesem Tag an war es ganz vorbei. Ich gab ihm Mamans Ehering. Er warf ihn mir vor die Füße.
›Man ist mit einer Lebenden verheiratet, nicht mit einer Toten!‹
Das war das Ende meines Familienlebens. Zu dritt würden wir nie mehr sein, zu zweit konnten wir nicht mehr sein. Wir waren wie Fremde, die sich beim Essen treffen. Und nicht mal das Essen gab diesem lächerlichen Gegenüber noch einen Sinn.
Mein Vater hatte einen streunenden Hund aufgenommen. Er warf ihm kleine Happen zu und erzog ihn. Stopp! Platz! Gib Pfötchen! Braver Hund! Das waren die einzigen Worte, die aus seinem Mund kamen. Ich war da, aber es war, als hätte er mich aus seinem Leben gestrichen. Er machte mich für Mamans Tod verantwortlich.
Ich konnte nichts sagen. In gewisser Weise hatte er recht. Ich hatte das Gefühl, alles weniger gut zu machen als sie. Die Erinnerung an sie war überall. Ich konnte nicht bleiben.
Unter dem Blick meines Vaters, der mich nicht mehr sah, würden mich die Gewissensbisse umbringen. Aber wegen Louise musste ich leben. Deshalb bin ich weggegangen ...
Verzeih mir, dass ich N. verlassen habe, ohne mich von dir zu verabschieden. Aber wenn ich zu dir gekommen wäre, hätte ich dir alles erzählt. Und ich wollte dich nicht in diese Geschichte hineinziehen. Ich hatte nur noch einen Gedanken: mein Kind zurückholen ... «
Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief zu Ende lesen konnte.
Am Ende war ich ausgeblutet,
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