Das geheime Prinzip der Liebe
drauf, der mit N begann.
Es war Dienstag, ich konnte die Briefe so oft lesen, wie ich wollte. Die Vergangenheit blieb mir verschlossen.
Punkt fünf Uhr hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss von Annies Zelle drehte. Wir waren frei! Unsere Leben würden nicht dazu dienen, für angebliche Missetaten anderer zu bezahlen.
Ein leichter Regen empfing uns am Ausgang, es war noch ganz finster. Wir gingen zu mir. Wir würden nicht mehr viel Zeit zum Schlafen haben, uns aber noch ein bisschen ausruhen können, wenn sie es wollte. Annie ging ganz dicht neben mir und hatte mir den Arm um die Taille gelegt, mein Arm war auf ihrer Schulter. Wir waren noch nie so miteinander gelaufen, ich fühlte mich unbesiegbar.
Moustique schlief noch. Wir gingen in mein Zimmer und legten uns auf mein Bett. Als ich sie küssen wollte, schob Annie mich sanft zurück und setzte sich auf. Sie wolle es mit ihrem »Ehemann« machen, nicht mit einem Mann »wie alle anderen«. Aber sie wollte mich deswegen nicht warten lassen. Wir könnten noch am selben Abend heiraten, wenn ich wollte. Pater André würde uns trauen, auch wenn wir ohne Ankündigung kämen. Pater André war unser Priester in N. Und dann würde sie glücklich sein und beruhigt, wir würden uns als Ehepaar lieben, und wir würden Louise als Ehepaar zu uns holen, als ihre Eltern, wenn ich diese Rolle annehmen wolle.
Ich sah sie an. Sie war sich ihrer Sache vollkommen sicher. Ich hatte sie nie so gläubig erlebt. Schon am Vortag hatte mich das Kruzifix in ihrem Zimmer überrascht.
Plötzlich sprang Annie auf und lachte voller Zärtlichkeit. Sie begann sich zu drehen und dazu zu singen, »einen Tanz für meinen Verlobten«, dabei zog sie ihren Pullover hoch und wieder runter, entblößte ihre Brüste und versteckte sie wieder. Dann blieb sie vor mir stehen, warf sich in meine Arme und bat mich, sie ganz fest zu halten.
Sie würde mich um zwei Uhr abholen, wenn ich Feierabend hätte, danach würden wir direkt in die Kirche fahren, ja?
Wunderbar! Aber woher wusste sie, dass ich um zwei Uhr Feierabend hatte? Ich wollte sie gerade danach fragen, als Moustique in mein Zimmer kam und wie üblich lauthals »Frühstück ist fertig, Kumpel!« rief.
»... und Kumpeline«, fügte er hinzu, als er Annie sah. Ihre Anwesenheit schien ihn keine Sekunde zu wundern, ganz im Gegenteil. »Na also! Sieht so aus, als hättet ihr beiden euch endlich gefunden.«
Da hatte ich meine Antwort. Annie hatte sich bei Moustique erkundigt.
Moustique war der Postler mit dem anzüglichen Grinsen. An dem Tag, als ich bei der Post anfing, hatte er mir ein Zimmer angeboten. Sein bester Freund, der darin gewohnt hatte, war verhaftet worden, Moustique wollte zwar auf ihn warten, aber er brauchte Geld. Ich müsse allerdings ausziehen, sobald er zurückkomme. Aber die letzten drei Jahre waren vergangen, ohne dass er zurückgekehrt war.
Moustique und ich passten bestens zueinander. Er war chaotisch, ich zwanghaft ordentlich. Anstatt zu streiten, räumte ich seine Unordnung auf, und er stiftete etwas Chaos in meinem Leben, weil ich zu zaghaft war, es selbst zu tun. Meine Freundinnen hatte ich immer durch ihn kennengelernt.
Manchmal kam es mir so vor, als wohnten wir in unterschiedlichen Städten. Ich traf nirgends hübsche Mädchen, bei ihm hingegen konnte man glauben, er erschaffe sie selbst. Eine Eroberung war reizender als die andere, und zu meinem größten Glück hatten sie immer beste Freundinnen, die fast ebenso entzückend waren. Es gibt Menschen, die eine besondere Begabung haben, die Schönheit aufzuspüren, wo immer sie sind.
Wenn er sich über meine Unbeholfenheit aufregte, rief er immer: »Ich glaub, mich tritt ein Pferd!« Seit dem Tod von Annies Mutter war mir dieser Ausdruck unerträglich, aber ich konnte es ihm noch so oft sagen, er vergaß es immer wieder. Moustique war nicht bösartig, er war einfach so.
»Ich glaub, mich tritt ein Pferd! Hier in Paris findet man viele, aber keine wie sie. Jetzt verstehe ich, warum du meine Neue letztens keines Blickes gewürdigt hast«, sagte er, während Annie im Bad war. Wir frühstückten zu dritt und lachten viel. Dann musste ich zur Arbeit. Moustique hatte frei. Annie auch, zumindest erzählte sie mir das. Sie begleitete mich bis zur Post. Zum Abschied küsste sie mich auf die Wange, ganz dicht am Mund, und sagte: »Bis nachher, mein Beinah-Mann.« Das werde ich nie vergessen.
Ich verbrachte den Vormittag damit, auf die Uhr zu starren und mich über
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