Das geheime Prinzip der Liebe
Pedale.
Und dieses seltsame Kruzifix über ihrem Bett, das ich für Bigotterie gehalten hatte. Ich hatte nichts begriffen. Sie wollte es mit ihrem »Ehemann« machen, nicht mit einem Mann »wie alle anderen«. Ihre Art, mich zu respektieren, mich nicht zu beschmutzen, mir eine bessere Rolle in ihrem Leben zuzuweisen, die einzige Lösung, die sie gefunden hatte, um mich von dieser dunklen Masse zu trennen, die in all den Monaten, all den Jahren über sie hinweggestiegen war.
Ich trat in die Pedale. Ich hielt nach dem Wald am Horizont Ausschau.
Hatte sie jemanden wiedererkannt in dieser dunklen Masse des Cafés, wo ich auf sie wartete? War sie deshalb nicht hereingekommen, sondern hatte nur ans Fenster geklopft? Und das Restaurant, in dem wir gegessen hatten? Hatte sie es ausgewählt, weil sie sicher war, dort niemanden zu treffen?
Ich trat voller Zorn in die Pedale. Schon war ich am Ortsschild von N. und der Haarnadelkurve vorbeigefahren. Bis zum Teich waren es nur noch ein paar hundert Meter. Aber als ich an L’Escalier vorbeikam, wurde ich langsamer, ein Reflex, so oft hatte ich unglücklich vor dem Haus gestanden. Und wenn sie auch dort haltgemacht hatte, wenn ihre Entschlossenheit ins Wanken geraten war? Wenn der Gedanke an Louise wieder in den Vordergrund getreten war und sie beruhigt hatte? Wenn er ihr zugeflüstert hatte, dass ein Kind seine Mutter liebt, egal, was sie ist oder was sie war?
Ich hielt nach einem Fahrrad Ausschau, irgendwo, an eine Mauer gelehnt. Aber es gab kein Lebenszeichen. Nur eine Gardine, die in der Glastür eines Zimmers im Erdgeschoss eingeklemmt war, wehte im Wind. Wie ein Gespenst.
Diese Vision ließ mich noch schneller trampeln, ich musste rechtzeitig kommen, musste sie daran hindern.
Hatte sie gestern Abend vielleicht absichtlich gehustet? Eine Asthmakrise simuliert? Sich lieber von den Deutschen mitnehmen lassen als mit mir zu schlafen? Uns könne nichts passieren, das sei schon Freunden von ihr passiert, die man am Morgen habe laufen lassen … Um eine Nacht Aufschub zu erhalten? Am nächsten Tag würden wir verheiratet sein
und sie hätte nicht mehr die schwierige Aufgabe, sich zu verweigern, die Verpflichtung, sich zu rechtfertigen. Wir würden uns »als Eheleute« lieben.
Sie war so glücklich gewesen am Morgen. Alles neu beginnen, alles neu aufbauen, mit mir und Louise. Sie wollte da raus, aber der Schreiber dieses Briefes wusste es offenbar und wollte es nicht dulden.
Ich trat in die Pedale. Hinter jeder Kurve hoffte ich, sie auftauchen zu sehen, sie einzuholen, sie in die Arme nehmen und ihr sagen zu können, dass ich einverstanden sei, ja, dass es im Leben des anderen immer eine Vergangenheit gebe, die nicht zähle. Oder sie zusammengekauert am Ufer des Teiches zu finden, weil sie es nicht gewagt hätte, weil der Mensch ein Feigling ist, umso besser. Oder weil sie zur Vernunft gekommen war, weil sie gespürt hatte, dass ich sie deswegen nicht verlassen würde, dass es mir egal war. Dass sie nicht weiter ins Wasser gegangen war, weil sie eben dort an Sommerabenden mit ihren Eltern gepicknickt hatte, alle drei vereint.
Ich hoffte, ihre Gestalt zu entdecken. Und dann würden wir uns küssen, innig, aufrichtig, unser erster Erwachsenenkuss, der nichts mit unseren Kinderküssen zu tun haben würde. Und nichts von den Plänen dieses Morgens würde sich geändert haben, wir würden zur Kirche gehen, würden dort heiraten, wo ich angefangen hatte, sie zu lieben. Wir würden die ersten Eheleute ohne Eheringe sein, aber Pater André würde eine Ausnahme machen, für uns, für die »Unzertrennlichen«, schließlich haben Vögel keine Finger.
Man hofft immer, vor dem Drama einzutreffen.
Ich rief sie, so laut ich konnte, ich brüllte ihren Namen, während ich um den Teich rannte, und dann sah ich ihr
Fahrrad im hohen Gras, dicht am Ufer. Und neben dem Hinterrad die Löcher von herausgerissenen Steinen. Ich ahnte, dass sie ihre Taschen damit gefüllt hatte und dass die Steine jetzt am Grund des Teiches lagen, mit ihr. Ich sprang ins Wasser, tauchte wieder und wieder, aber der Schlamm nahm mir die Sicht. Oder waren es meine Tränen? Ich weiß es nicht.
Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als ich endlich aufgab. Ich habe darauf gewartet, dass Annies Körper an die Oberfläche kommt. Die Steine konnten eine Puppe am Grund des Teiches halten, aber keinen aufgeblähten Körper voller Wasser. Die Kraft des Wassers würde über die der Steine siegen. Stein-Papier-Schere.
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