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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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WASSER. Annies Körper ist niemals aufgetaucht.

    Annie hat immer zu meinem Leben gehört. Ich war zwei, als sie geboren wurde, zwei Jahre minus ein paar Tage, und ich war zwanzig, als sie gestorben ist, zwanzig minus ein paar Tage. Mit zwei Jahren minus ein paar Tage weiß man nicht, dass man der Liebe seines Lebens begegnet, aber mit zwanzig minus ein paar Tage weiß man, wenn sie stirbt. Und dann fragt man sich, warum man noch lebt.
    Es gibt Menschen, die denken, sie werden sterben, wenn ihr Unzertrennliches verschwindet. Aber ich habe schon immer gewusst, dass man dieses Glück nicht hat. Mein Vater hat meiner Mutter nie zugeflüstert, man könne »aus Liebe sterben«.

Zwei Wochen lang bekam ich keine Briefe.

    Dieser Mensch war einfach so in meinem Leben aufgetaucht und hatte mich damit überfallen, dass meine Mutter nicht meine Mutter und meine angebliche Mutter – diese Annie – gestorben war, und dann war er genauso plötzlich wieder verschwunden. Pech für mich, wenn ich nicht mehr schlafen konnte.
    Er hätte einen Abschluss finden, mir sagen können: Also gut, ich denke, Sie haben verstanden. Louise, das sind Sie, es tut mir unendlich leid, es Ihnen so mitzuteilen, aber hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie wollen, dass wir darüber reden ...
    Nichts dergleichen, das war offenbar zu viel verlangt, zu kompliziert für einen Mann, der meint, dass die Geheimnisse mit denen sterben müssen, die sie getragen haben. Aber warum hatte dieser Schwachkopf dann überhaupt zum Stift gegriffen? Meine Mutter war schließlich tot – nein, meine beiden Mütter!

    Immerhin war es nicht mein Vorname. Es war auch nicht mein Geburtsdatum. Ich versuchte mich zu trösten, so gut ich konnte. Außerdem hatte ich immer noch keine Spur von diesem Dorf, das mit N anfing und in dem angeblich irgendeine Holzkirche stand. Auch alle andere Indizien entzogen sich meinen Nachforschungen.

    In der Querstraße sei eine Bildergalerie, ich müsse daran vorbeigehen, dann sei es die erste rechts. Nummer 65. Ich klingelte. Madame M. öffnete mir die Tür. Sie hielt das Baby in den Armen.
    So weit ich zurückdenken konnte, hatten wir nie in einer Nummer 65 gewohnt.
    L’Escalier, das schöne Herrenhaus, das mitten in unserem kleinen Dorf stand, wie ein Schwan zwischen lauter Staren.
    Auch da konnte ich mir kaum vorstellen, dass meine Eltern mir nie von diesem Haus erzählt hätten. Natürlich hatte ich nach einem Ort gesucht, den man L’Escalier nannte, doch ohne etwas zu finden. Ich fühlte mich wie auf Treibsand.
    Und wenn der nächste Seufzer mein letzter sein würde? Entsetzt hielt ich den Atem an, drehte mich flehend zur Statue des Heiligen Rochus um. Er hatte Leprakranke geheilt, da konnte er wohl auch mich retten …

    »ROCHUS (Heiliger) , um 1300–1350, heilt auf der Pilgerfahrt nach Rom viele Pestkranke. Als er selbst erkrankt, zieht er sich in einen Wald zurück. Ein Engel pflegt ihn, ein Hund aus der Nachbarschaft bringt ihm Brot und er gesundet. Später stirbt er im Gefängnis, weil ihn die Seinen nicht wiedererkennen. Der Kult um ihn entwickelte sich im 15. Jahrhundert in ganz Europa, ließ aber nach, als auch die Pest seltener
wurde, vor der er schützen sollte. Den Heiligen Rochus erkennt man an der Glocke, die er in der Hand hält. Manchmal trägt er auch eine Schultertasche, einen Hut und den Umhang des Pilgers. Ein Hund steht neben ihm, er hebt einen Zipfel des Umhangs, um die Wunde zu entblößen, die der Heilige Rochus am Bein hat. Man ruft ihn an, wenn sich Epidemien in einer Stadt ausbreiten. Zahlreiche Statuen, Kirchen und Kapellen sind ihm geweiht.«
    Le Petit Robert der Eigennamen
    Eine Kirche zu finden, in der sich eine Statue des Heiligen Rochus befand, glich also der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Ebenso, ein Dorf »N.« zu suchen, in dem es einen Teich gab. Oder ein Dorf »N.«, in dem La Gazette gelesen wurde – einen weiter verbreiteten Namen für eine Zeitung gab es wohl kaum.
    Rue de la Sablière. Rue Hippolyte-Maindron. 3. 14. 32. 46. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, Albertos Atelier zu finden, Rue Hippolyte-Maindron 46. Vielleicht waren es immer noch die Marionettenfäden.
    Ich war bei dieser Adresse. Es war das Atelier von Alberto Giacometti. Auch das noch!
    Und alles passte. Er hatte wirklich einen Bruder, Diego, und er war mit ihm einige Tage vor dem Eintreffen der Deutschen in Paris geflohen. Jetzt aber war er tot, er konnte mir also nichts mehr verraten. »Alberto

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