Das geheime Prinzip der Liebe
nicht mehr übrig von Nuisement-aux-Bois, aber diese Kirche und der Friedhof würden mir vielleicht weiterhelfen.
Als ich die Wohnung verließ, stieß ich gegen Madame Merleau, die gerade klingeln wollte.
Sie hielt einen dicken Umschlag in den Händen, der nicht in den Briefkasten passte, und fragte mich freundlich, ob alles in Ordnung sei. Ich sei schon seit vier Tagen nicht aus der Wohnung gekommen, sie mache sich Sorgen.
Ja, ja, alles in Ordnung. Ich hatte keine Zeit für längere
Gespräche und riss ihr das Paket förmlich aus den Händen, um die Schrift zu sehen.
Offenbar hatte Louis noch nicht sein letztes Wort gesagt. Ich würde es unterwegs lesen.
Paris, Richtung Vitry-le-François. Ab Vitry-le-François auf die D13 in Richtung Lac du Der. Dort führt eine Straße nach Sainte-Marie-du-Lac.
Der Umschlag enthielt ein in Packpapier gewickeltes Paket und einen kurzen Brief, ebenfalls mit Louis’ Handschrift.
Liebe Camille,
ich dachte, ich würde die ganze Geschichte kennen, aber ich sollte noch Jahre brauchen, um zu verstehen, was tatsächlich geschehen ist. Ich glaubte immer, im Besitz der ganzen Wahrheit zu sein. Bis ich sie zu lesen bekam.
Ich bin Annie nicht böse, dass sie mir die Wahrheit verheimlicht hat. Sie wusste, was die Eifersucht anrichten kann, denn sie selbst hat den Preis dafür bezahlt.
Ich habe sie sofort wiedererkannt. Nicht an ihrem Aussehen, sondern bei ihren ersten Worten. Es war wie eine Erscheinung. Ihre Stimme war nicht für ein Gespräch geschaffen. Sie hat mir alles in einem einzigen, langen Monolog erzählt. Mit der ganzen Schamlosigkeit einer Schuldigen. Ohne Rücksicht auf meine Gefühle. Ich spürte, dass ich sie nicht unterbrechen durfte.
Alles war klar. Schmutzig, aber klar.
»Liebe Camille« ... Diese beiden Worte durchbohrten mein Herz.
Seltsamerweise wurde mir genau an diesem Punkt klar, dass ich Louise war.
Ich entfernte das Packpapier.
Es enthielt ein dickes Schulheft.
Ich schlug es auf.
Immer noch die Schrift von Louis, diesmal aber enger, hastiger, und wieder die Worte einer anderen.
Alles, was ich getan habe, habe ich getan, um meinen Mann nicht zu verlieren.
Ich suche keine Entschuldigung, denn es gibt keine. Sie sollen nur wissen, dass ich diesen Mann mehr liebte als alles auf der Welt. Den Mann und das Kind.
Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll ...
Das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist unser Streit in L’Escalier.
Das Klappern seiner Schreibmaschine hatte mich im Morgengrauen geweckt.
Mein Mann war Journalist, er arbeitete viel, und durch das Pendeln zwischen L’Escalier und seiner Redaktion in Paris zogen sich seine Arbeitstage noch länger hin . Wenn er heimkam, schlief ich oft schon, aber wir tranken jeden Morgen zusammen Kaffee .
An jenem Tag stieß er vor Erregung seine Tasse um.
»Ich fasse es nicht! Es gibt mindestens hundert Tote und mehr als dreißigtausend Verhaftungen. Alle Welt spricht darüber, und du fällst aus allen Wolken?«
Ja, ich fiel aus allen Wolken. In Deutschland hatte Goebbels das Halali zu einer entsetzlichen Jagd auf die Juden geblasen. Die verfluchten Nazis hatten so viele Schaufenster und Geschirr zerschlagen, dass sie es »Kristallnacht« nannten.
Je länger mein Mann mir schilderte, was geschehen war, desto zorniger wurde er auf mich.
Schließlich brach es aus ihm heraus.
»So kann das nicht weitergehen! Ich habe zugestimmt, dass wir hierherziehen, damit es dir bessergeht. Aber ich erkenne dich nicht wieder. Du kümmerst dich nur noch darum, ob ich dir Leinwand, Zeichenkohle oder Acrylfarbe mitgebracht habe. Du wirst dein Problem nicht lösen, indem du dich vom Rest der Welt abkapselst ... So, jetzt komme ich auch noch zu spät in die Redaktion!«
»Na los, dann geh doch! Geh zurück in deine wunderbare Welt, wo alle über alles Bescheid wissen ... Geh und erkläre deinen geliebten Lesern, was in der Welt geschieht, aber mach dir bloß nicht die Mühe, mir zu erklären, was zwischen uns geschieht und wie sich unsere Welt entwickelt!«
Das war der erste Streit in unserem Leben. Auch er blies das Halali zu irgendetwas, ich ahnte es.
Es war der 11. November 1938.
Mein Mann hatte recht: Seit Wochen las ich keine Zeitung mehr. Ich konnte die darin tobende Kampagne für das Kinderkriegen nicht mehr ertragen. Überall die gleichen Beschwörungen.
Macht Kinder! Macht Kinder! Die Verluste von 1914 müssen ausgeglichen werden!
60 Millionen Franzosen und der Frieden ist gesichert!
647 498
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