Das geheime Prinzip der Liebe
Giacometti«, das erschien mir zu groß, um wahr zu sein. Meine Eltern hätten mir von ihm erzählt.
Diese Entdeckung erleichterte mich, ich wollte darin den
Beweis sehen, dass all diese Briefe nur Elaborate, Erfindungen eines Autors waren, und das beruhigte mich.
Vielleicht würde er schließlich doch im Büro auftauchen: »Haha, da habe ich Sie schön reingelegt! Und, veröffentlichen Sie meinen Roman?«
Und alles würde bei einem gemeinsamen Mittagessen enden. Und ich würde zu Mamans Grab gehen, ihr die Geschichte erzählen und mich entschuldigen, an ihr gezweifelt zu haben.
Das Telefon klingelte.
Wann immer ich das Klingeln hörte, im Büro oder zu Hause, dachte ich zuerst an Nicolas. Wollte er mir sagen, dass es ihm leid tue, so mit mir gesprochen zu haben? Dass er lange nachgedacht habe? Dass es so viele Menschen gebe, die nicht mit einem Kind rechneten und dann sehr gut damit klarkämen, warum also nicht wir?
»Guten Tag, hier ist Professor Winnicott. Ihre Assistentin hat mir Ihre Privatnummer gegeben. Ich habe gehört, Sie recherchieren über Holzkirchen.«
Professor Winnicott war Amerikaner und lebte seit fast fünfzehn Jahren in Paris, er hatte immer noch einen Akzent, den man mit dem Messer schneiden konnte. Er war von einem amerikanischen Museum nach Frankreich geschickt worden, als sich der Kampf um die Kirche von Nuisement-aux-Bois abspielte.
»Nuisement-aux-Bois« begann mit einem N, ich presste das Ohr an den Hörer.
Die Geschichte ging weit zurück. Wegen der schrecklichen Hochwasser in Paris von 1910 bis 1955 ließ die Stadt mehrere Staubecken an der Seine und ihren Zuflüssen errichten, um künftig solche zerstörerischen Überschwemmungen
zu verhindern. Der Bau des Stausees Lac du Der-Chantecoq an der Marne brachte eine Katastrophe mit sich. Von einem Tag auf den anderen verschwanden drei Dörfer von der Erdoberfläche: Chantecoq, das nur im Namen des Sees weiterbestand, Champaubert-aux-Bois und Nuisement-aux-Bois. Ohnmächtig mussten die Bewohner zusehen, wie der ganze Wald gefällt und die Stümpfe ausgegraben, ihre Häuser abgebaut und verbrannt und ihr dem Erdboden gleichgemachtes Dorf unter Wasser gesetzt wurde. Damit Paris nicht mehr überschwemmt werde.
Man müsse erlebt haben, fuhr Professor Winnicott fort, wie es sei, für das »Gemeinwohl« aus seinem eigenen Haus vertrieben zu werden, ja, sein eigenes Haus versinken zu sehen, um zu verstehen, wie es sich anfühlt. Manche erholten sich nie mehr davon. Die Indianer seien einst daran gestorben.
Aber in jeder großen Tragödie gebe es ein kleines Wunder, und so sei eine kleine Kirche gerettet worden, eine Kirche und ihr Friedhof. Die Kirche von Nuisement.
»Und da kam ich ins Spiel, Mademoiselle Werner. Diese Kirche ist ein charakteristisches Beispiel jener wunderbaren Holzbauwerke, die es nur in der Champagne gibt. Ein Freund von mir in Amerika wollte sie retten und in seinem Museum wieder aufbauen. Er bat mich, vor Ort zu vermitteln. Ich glaube, die Rettung der Kirche ist nur ihm zu verdanken. Wenn sich Amerika nicht dafür interessiert hätte, wäre sie gewiss wie alle anderen Gebäude dieser drei Dörfer abgerissen worden und im Wasser versunken. Aber weil er sich für sie interessierte, erwachte auch das Interesse anderer, so geht das ja oft im Leben. Die Kirche wurde zerlegt und in Sainte-Marie-du-Lac, einem kleinen Dorf direkt neben dem einstigen Nuisement-aux-Bois,
Stück für Stück wieder aufgebaut. Auch alle Leichen auf dem Friedhof wurden exhumiert und hinter der Kirche erneut beigesetzt. Die Weihe dieses wie durch ein Wunder geretteten Bauwerks fand vor vier Jahren statt, am 12. September 1971. Das ist alles, was ich Ihnen über die Kirche von Nuisement sagen kann. Ich hoffe, es hilft Ihnen weiter.«
»Wie heißen Sie mit Vornamen, Monsieur Winnicott?«
»Maurice. Warum fragen Sie danach, Mademoiselle Werner?«
»Nur so. Ich danke Ihnen sehr für diese Informationen!«
Einen Augenblick hatte ich gedacht, Louis verstecke sich hinter Monsieur Winnicott, aber in derselben Sekunde wusste ich schon, dass ich falsch lag. Für Louis war Französisch die Muttersprache, keine Fremdsprache.
Ich rief Mélanie an und dankte ihr, diese wunderbare Informationsquelle aufgetan zu haben. Dann sagte ich ihr, ich würde auch am nächsten Tag nicht ins Büro kommen, ich hätte persönliche Angelegenheiten zu regeln.
Ich ging unter die Dusche, zog mich eilig an, schnappte meine Autoschlüssel und die Straßenkarte. Viel war
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