Das geheime Prinzip der Liebe
Ende des Essens klopfte Granny mit dem Löffel gegen ihre Untertasse, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie bedankte sich, dass wir so zahlreich erschienen waren. Alle sechzehn!
Wir klatschten.
Plötzlich sagte jemand: »Wir sind gar nicht sechzehn, Granny. Wir sind fünfzehn!«
Die alte Frau mit dem lachenden Blick tat so, als würde sie noch einmal zählen, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich leide noch nicht unter Altersschwäche. Wenn ich sage sechzehn, dann meine ich auch sechzehn.«
Jetzt begriffen alle. Begeistert wurden die Namen der Frauen gerufen, die am Tisch saßen. Marine! Cathérine! Mathilde! Bérengère?! Emma! Virginie?!
Alle Namen – außer Grannys und meinem. Weil es bei ihr nicht mehr und bei mir niemals möglich war. Paul drückte unter dem Tisch meine Hand.
Die Spontaneität des Rätselspiels hatte über die Aufmerksamkeit der Anwesenden und ihr Feingefühl obsiegt. Wie bei einem Orchester, das sich einstimmt, wurden die Namen allmählich weniger, bis nur einer übrig blieb. Mathilde. Und in der Tat zeigte sich auf dem Gesicht der Heldin des Tages das zu dem Anlass passende Entzücken. Allgemeiner Beifall. Und mittendrin erhob sich die Stimme der Heldin des Tages, gewichtig durch das Kind, das sie trug, und nicht sehr geistreich, weil überglücklich .
Plötzlich erstarrte ihr strahlendes Lächeln, ihr Blick wich meinem aus und Unbehagen machte sich in der Runde breit. Schweigen. Das Spiel wurde von der Wirklichkeit verdrängt, von meiner Wirklichkeit . In diesem Augenblick begriff ich, dass ich »die Unfruchtbare« der Familie geworden war, diejenige, in deren Gegenwart man sich nicht zu freudigen Regungen hinreißen lassen durfte, die Arme, Unglückliche, die unter der Freude der anderen litt. Meine Schande war besiegelt.
Meine Unfruchtbarkeit wurde zu meiner einzigen Daseinsweise. Ich konnte mit niemandem mehr ein normales Gespräch führen. Meine Wut oder Traurigkeit bei beliebigen Fragen wurde niemals als solche verstanden. Ich merkte
genau, dass sie im Stillen dachten: Sie ist wütend, weil sie kein Kind bekommen kann, sie ist traurig, weil sie kein Kind bekommen kann. Meine eigentliche Meinung zählte nicht mehr.
Sie dachten wohl alle, dass meine Scham der Grund für unsere überstürzte Abreise war, und sie hatten recht. Aber sie hätten sich niemals eingestanden, dass sie mitverantwortlich waren für diese Scham.
Ich muss anerkennen, dass Paul alles getan hat, damit der Umzug problemlos verlief. Er hat sich niemals über die zahllosen Fahrten zwischen N. und Paris beklagt, sei es zur Arbeit oder um Einladungen zum Abendessen zu folgen. Denn er nahm weiter am gesellschaftlichen Leben teil. Männer haben andere Sorgen als Frauen.
Ich wollte in L’Escalier nicht mehr die geringste Andeutung über meine Unfruchtbarkeit ertragen, und alle schienen sich verständigt zu haben, mir das Leben zu erleichtern. Um die Menschen zu meiden, genügte es, nicht mehr in Paris zu wohnen. Niemand kam uns besuchen. Paul bemühte sich, das schmerzhafte Thema zu umgehen. Sophie war das perfekte Dienstmädchen, indem sie so tat, als wüsste sie nichts. Jacques, der Diener meines Mannes, interessierte sich für solche Dinge nur bei Tieren.
Sogar mit Alberto hatte ich Glück. Er gehörte zu den Menschen, deren Diskretion darin besteht, Probleme, für die sie keine Lösung kennen, einfach nicht anzusprechen.
Und Alberto erklärte sich bereit, Annie Malunterricht zu geben.
Annie war der einzige Mensch, der mein labiles Gleichgewicht bedrohen konnte.
Sie malte oft in unmittelbarer Nähe von L’Escalier, und ich beobachtete sie von weitem. Eines Tages bat ich Jacques, sie zum Tee einzuladen. Ich hatte Lust auf etwas Gesellschaft. Sie gewöhnte sich an, zum Arbeiten zu uns zu kommen. Entgegen allen Erwartungen mochte ich das Mädchen und genoss ihre Gegenwart. Sie war seit langer Zeit der erste Mensch, der mich nicht als missglückte Mutter ansah.
Es war mir ein Vergnügen, ihr alles zu beschaffen, was sie zum Malen brauchte. Als hätte mein Mutterinstinkt endlich jemanden gefunden, um seine Frustration zu beruhigen. Ich würde nicht sagen, dass sie das Kind ersetzte, das ich nicht zustande brachte, das wäre grotesk, aber es gab so etwas Ähnliches in meiner Beziehung zu ihr. Und das Groteske gehört manchmal zum Leben.
Annie hat mir niemals die geringste Frage gestellt. Sie hat sich nicht einmal über das Fehlen eines Kindes in unserer Ehe gewundert, und ich hatte den Eindruck, dass es
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