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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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nicht bewusst geschah, dass sie sich kein Schweigen auferlegte. Es kam ihr einfach nicht in den Sinn. Da sie selbst nicht in der Normalität gefangen war, fand mich Annie nicht anormal.
    Ich war überzeugt, dass ich mein Unglück für mich behalten musste, wenn ich es bändigen wollte. Ich hielt mich zurück und sprach mit ihr nicht darüber. Ich freute mich, dass sie nichts wusste, und vor allem, wenn ich erstaunt feststellte, dass ich selbst es in ihrer Gegenwart vergaß.
    Leider kann man so ein Thema nicht ein Leben lang umgehen. Das können ein Mann und eine Frau, die sich lieben, ebenso wenig wie zwei Frauen, die echte Freundschaft verbindet.
    Eines Tages habe ich ihr alles erzählt. In allen Einzelheiten.
Ich konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie war der erste Mensch, dem ich mich anvertraute, und ich fand es verstörend und zugleich erhellend, zu hören, wie ich meine Emotionen in Worte fasste.
    Ich habe es sofort bereut. Ich wusste, ich hatte alles verdorben.
    Von meinem Unglück überwältigt, saß sie mir gegenüber und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Und ich erkannte sofort die Scham in mir wieder, die ich hatte abschütteln wollen, indem ich Paris verließ. Die gleiche klebrige Scham, sodass ich plötzlich den Kopf senkte und das Kinn in die Hände stützte. Diese Haltung, Ausdruck größter Erschöpfung, hatte ich nicht mehr eingenommen, seit Annie mich besuchte. Ich hatte alles verdorben. Ich weinte über meine Schwäche.
    Bekenntnisse können ein Zeichen von Liebe oder Freundschaft sein, doch man muss sie geschickt handhaben. Nicht jeder ist dafür empfänglich, ein junges Mädchen am allerwenigsten. Man muss den Charakter reifen lassen, ehe man ihn mit Dingen belastet, die ihn nicht betreffen. Alle Erwachsenen, die Kindern ihre Missgeschicke anvertrauen, widern mich an. Ich widere mich selbst an. Aber an jenem Tag war ich selbst nicht erwachsen genug, um zu begreifen, wie jung Annie war. Zu jung, um meine Bekenntnisse zu empfangen, zu jung, um ihnen mit Ratschlägen zu begegnen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als meine Verzweiflung tief in sich eindringen zu lassen. Und wie es so oft geht, antwortete sie mit einem eigenen Bekenntnis.
    Annie wollte keine Kinder. Sie war von erstaunlicher Entschlossenheit für ihr Alter. Ich sah, wie eindringlich ihre Augen glänzten, während ihre Hände behutsam die Serviette zusammenfalteten. Entschlossenheit gepaart mit
Sanftmut: In diesem Moment war sie ganz sie selbst. Ich glaube, ihr Charme rührte zum Teil von dieser merkwürdigen Mischung her.
    Sie stellte sich ihr Leben ohne Kinder vor. Mir wurde klar, warum sich meine Unfruchtbarkeit an ihrer Seite so leicht angefühlt hatte.
    »Es verträgt sich nicht«, fügte sie hinzu und zählte eine lange Reihe von Frauen auf, die wegen ihrer Mutterschaft die Malerei hatten aufgeben müssen. Sie erzählte mir auch von ihren Eltern, die so lange auf sie gewartet hatten, bis zu jener äußersten Grenze, wo man aufhört zu warten. Und der Freude über ihre Geburt war unmittelbar die Angst gefolgt, sie zu verlieren. Ihre Mutter umgab sie mit unendlicher Sorge und vermittelte ihr damit ungewollt, dass ein Kind eine schwere Verantwortung bedeutet.
    »Nur Märchen enden damit, dass man heiratet und viele Kinder bekommt«, hatte Annie am Ende gesagt. Sie wirkte lakonisch und sensibel, ihre Denkweise entsprach weder ihrem Alter noch ihrer Herkunft.
    Nichtsdestotrotz war sie in dem Alter, in dem man noch nicht weiß, dass es für bestimmte Probleme keine Lösung gibt. Und sie wollte eine Lösung für mich finden, egal welche. Sie hätte niemals weiterreden sollen .
    Sie schlug mir vor, an meiner Stelle ein Kind zu bekommen … Entschuldigung, ich drücke mich nicht richtig aus: für mich ein Kind zu bekommen.

    Es war der 7. Februar 1939. Ich hielt noch immer den Kopf gesenkt, beide Hände unter dem Kinn. Niedergeschlagen starrte ich auf das Datum der Zeitung neben meinem Teller, so wie man sich an einen Grashalm klammert, um nicht abzustürzen.

    Im ersten Moment, ich schwöre es, fand ich ihren Vorschlag völlig absurd, unüberlegt, naiv … Aber Verzweiflung ist ein hinterhältiges Übel, das in der Nacht erstarkt, und am nächsten Abend begann ich schon darüber nachzudenken. Sollte dies der wahre Grund unserer Begegnung sein? Der Wille Gottes?
    Immer wieder rief ich in jener Zeit Gott an, eine Angewohnheit, die meiner Hilflosigkeit entsprang. Ich war weder gläubig noch ging ich zur Kirche, ich war nur

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