Das Geheimnis am goldenen Fluß
einen Schritt zurück und ließ einen letzten Blick über ihre potenziellen Nachfolgerinnen schweifen, dann reduzierte sie die Zahl der Finalistinnen auf zwei: K’un-Chien und eine andere.
Die Frau neben K’un-Chien war jünger, vielleicht erst vierzehn gegenüber K’un-Chiens neunzehn Jahren. Sie war eine klassische Schönheit, wie eine Kurtisane der Ming-Dynastie: helle Haut, schwarze Haare, die zu einer kunstvollen, mit bunten Kämmen und Quasten geschmückten Skulptur hochgesteckt waren, schimmernde Augen, die so schwarz waren, dass Tree nicht die Grenze zwischen Iris und Pupille erkennen konnte, winziger Mund mit tiefroten Lippen. Ihr Körper war eine Sinfonie sinnlicher Rundungen.
Tree sah von dem jungen Mädchen zu K’un-Chien und presste eine Hand auf ihren schmerzenden Bauch. So oder so, eines der beiden schönen Gesichter würden die Scherenzähne zerstören.
Beinahe zehn Minuten starrte die Kaiserin auf die beiden Frauen. Schließlich schickte sie die Jüngere mit einem Wink fort. Sie reichte K’un-Chien die rote Lotusblüte.
K’un-Chien schloss die Augen und nahm die Blüte entgegen.
40
»Aufhören!«, rief Tree und trat vor.
Yu Lin versperrte ihr den Weg.
»K’un-Chien kann nicht die neue Kaiserin werden«, sagte Tree. »Ihre Schönheit ist beschmutzt.«
Unter ihrer Maske runzelte die Kaiserin die Stirn. »Lasst sie nähertreten.«
Yu Lin funkelte Tree an, trat aber zur Seite.
»Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt, Barbarin«, sagte die Kaiserin. »Aber nun, da du sie kundgetan hast, erkläre, weshalb ihre Schönheit beschmutzt sein soll.«
»Sie soll ihren Kragen aufknöpfen«, sagte Tree. »Ihr werdet sehen, was ich meine. Sie hat eine hässliche Narbe am Hals.«
Die Kaiserin nickte K’un-Chien zu.
K’un-Chien knöpfte ihren Mandarin-Kragen auf.
»Zieh den Stoff auseinander«, sagte die Kaiserin.
K’un-Chien entblößte ihren Hals. Eine pinkfarbene Narbe von der Größe eines Fünfcentstücks stach auf ihrer glatten Haut hervor.
Erschüttert trat die Kaiserin einen Schritt zurück. »Das kann nicht sein. Etwas stimmt hier nicht.«
»Ich sehe mich gezwungen, der ungehobelten Barbarin Recht zu geben«, sagte Yu Lin. »K’un-Chien taugt nicht zur neuen Kaiserin, ihre Schönheit ist befleckt. Das Opfer wäre nicht rein, die Götter würden betrogen.«
»Aber – das ist unmöglich«, sagte die Kaiserin. »In meiner Vision sah ich, dass der Lung-Hu durch mich geboren werden wird. Fälschlicherweise nahm ich jahrelang an, dass sich dies direkt auf mich bezog – auf meinen eigenen Schoß. Doch das war nicht mein Karma. Nun bin ich zu alt. Es ist Zeit für mich, von einer anderen ersetzt zu werden. Deswegen muss K’un-Chien, meine einzige Tochter, die neue Kaiserin werden. Auf diese Weise wird der Lung-Hu indirekt durch mich geboren. Eine andere Frau kann meine Vision nicht erfüllen.«
»Dann war die Wahlzeremonie nur eine Farce?«, fragte Tree. »Ihr wusstet von Anfang an, dass Ihr K’un-Chien auswählen würdet?«
»Sei still«, fauchte Yu Lin. »Du mischst dich leichtfertig in die Belange anderer ein. Nichts von alledem geht dich etwas an.«
Mason trat vor und nahm Trees Hand. »Es geht uns sehr wohl etwas an, wenn Ihr meine Zweite Frau als Opfer auswählt.«
Ein Halblächeln huschte über Yu Lins Lippen. »Wartet. Es gibt eine andere Möglichkeit, Kaiserin. Eure Vision könnte sich dennoch bewahrheiten. Der Barbar hat uns die Lösung des Problems gegeben. Durch seine Vermählung mit Eurer Tochter K’un-Chien ist er Euer Schwiegersohn. Und da er auch mit dieser Frau verheiratet ist – Tree –, ist sie Eure Schwiegertochter. Das macht sie zu einem Euch Ehrerbietung schuldenden Mitglied Eurer Familie. Möglicherweise bezog sich die Ling-Chih-Vision auf sie, obwohl sie nicht von Eurem Blute ist.«
Tree sah die Grausamkeit in Yu Lins Lächeln, und ihr Magen gefror zu Eis. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Die Kaiserin starrte Tree durch den Augenschlitz ihrer Keramikmaske an. »Ihre Schönheit ist in der Tat überwältigend. Hätte ich sie als mögliche Kandidatin in Erwägung gezogen, wäre es auf eine Wahl zwischen ihr und K’un-Chien und dem anderen Mädchen hinausgelaufen.«
»Schaut Euch ihr Haar an«, sagte Yu Lin. »Solch goldschimmernde Locken müssen die Aufmerksamkeit der Götter wecken. Und selbst ihre Augen kommen K’un-Chiens an schillernder Pracht gleich. Den Göttern das Geschenk ihrer Schönheit zu machen, wäre vielleicht wirklich
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