Das Geheimnis am goldenen Fluß
vielleicht hatten sie Recht damit.
»Tree, wie … was …« Er holte tief Luft. »Wie fühlst du dich bei der Sache?«
»Verwirrt – als rühre jemand mit einem Löffel in meinem Herzen.«
»Geht mir genauso.«
»Und extrem verletzlich. Ich fürchte, dass, wenn ich nicht das Richtige sage oder tue, mir großer Schmerz zugefügt wird – genau wie dir und K’un-Chien.«
»Es scheint so unwirklich«, sagte Mason. »Ich frage mich die ganze Zeit, in welches Märchen wir hier wohl geraten sind.«
»Liebst du sie noch?«
»Sie ist ein Hermaphrodit, Tree. Sie – er – hat einen Penis.«
»Liebst du sie noch, Mason?«
»Liebst du sie noch?«
»Ich möchte, dass du zuerst antwortest.«
Mason beobachtete K’un-Chien, die Kiki ein uraltes chinesisches Schlaflied vorsang.
Er schluckte schwer. »Ich habe Angst.«
»Ich fragte nicht, ob du Angst hättest«, sagte Tree. »Ich habe auch Angst. Du hast mir vor einiger Zeit gesagt, du würdest sie lieben – ich frage dich, ob du sie noch immer liebst.«
»Was bedeutet es, wenn ich ja sage?«
»Muss man Gefühlen immer eine bestimmte Bedeutung beimessen?«
Mason schaute wieder zu K’un-Chien hoch. Zärtlich küsste sie Kikis schlafendes Gesicht. Dann hob sie den Kopf, und ihre Augen trafen seine. Wenn Augen die Fenster zur Seele sind, muss ihre Seele in tiefblaues Licht getaucht sein.
Mason legte eine Hand an sein Herz, damit es keinen Schlag aussetzte. »Ich liebe sie«, flüsterte er. »Ich kann nicht anders. Ich liebe sie.«
»Gut«, sagte Tree. »Ich auch.«
Mason schaute zu Boden. »Tree, da ist etwas, das du wissen musst … Dein Vater …« Er zögerte.
»Was ist mit meinem Vater?«
»Er hat es geschafft; er entdeckte die Kolonie. Er lebte in Jou P’u T’uan, bis er von den Bienen getötet wurde, an dem Tag, als K’un-Chiens Brüder ertranken.« Er schaute zu ihr auf. »Tree, die Jungen waren seine Söhne: K’un-Chien ist sein Kind.«
Trees Gesicht wurde bleich. »K’un-Chien und Meng Po.«
Er nickte. »Sie sind deine Halbgeschwister.«
Tree starrte zu K’un-Chien hoch. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
Mason fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Als ich es herausfand, warst du und K’un-Chien bereits – du weißt schon – verliebt. Angesichts unserer seltsamen Lage dachte ich, es würde sowieso keinen großen Unterschied machen.«
»Du meinst, diese alten verstaubten Moralvorstellungen über Inzest würden hier nicht gelten?«
Mason zuckte mit den Schultern; er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Weiß K’un-Chien es?«
Mason schüttelte den Kopf. »Meng Po auch nicht. Schau, es tut mir Leid. Ich wusste nicht, wie ich mit der Neuigkeit umgehen sollte. Vielleicht hätte ich es dir früher sagen sollen.«
»Vielleicht?«
»In der Kultur der Ming-Dynastie – der einzigen Kultur, die K’un-Chien jemals kannte – war es üblich, dass ein Mann mehrere Schwestern heiratete, und alle teilten das Ehebett miteinander«, sagte er. »Erinnerst du dich an die Sammlung chinesischer Bettlektüre deines Vaters?«
»Weißt du noch, als wir uns eins ansahen und er uns dabei erwischte?«
»Denk mal an die Bilder in ›Geheimnisse der Jadekammer‹ – die Frauen waren nicht bloß passive Beobachter, sie trieben es sowohl mit ihrem Ehemann als auch miteinander.«
»Willst du damit sagen, dass, wenn wir schon im Alten Rom sind –«
»Ich sage, dass man auf eure Beziehung durch die Linse westlicher Moral schauen kann, oder man beschließt, sie durch einen anderen Fokus zu betrachten. Wusstest du, dass von den mehreren tausend Kulturen, welche die Anthropologen identifiziert haben, mehr als vier von fünf polygam und etwa eine von fünfzig polyandrisch waren – also eine Frau mit zwei oder mehreren Ehemännern, normalerweise Brüder?«
»Sicher. Okay. Es ist nicht, dass ich gerade von Bord der Mayflower komme. Ich bin kein Puritaner. Aber nichts von alledem sagt mir, wie ich mich jetzt fühlen soll.« Tree rieb ihre Stirn. »K’un-Chien ist meine Halbschwester. Um Himmels willen, Mason, ist da noch etwas, was du mir nicht gesagt hast?«
Er schüttelte den Kopf. »Also, was wollen wir tun, Tree?«
»Kiki muss zu Meng Po zurückgebracht werden. Wir werden K’un-Chien begleiten.«
»Bist du wahnsinnig? Du sagtest, sie würden mich umbringen, und du hattest Recht damit – sie würden uns alle umbringen.«
»Willst du ihr einfach Lebewohl sagen? Möchtest du, dass die Bienen sie umbringen? Wir müssen ihr
Weitere Kostenlose Bücher