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Das Geheimnis am goldenen Fluß

Titel: Das Geheimnis am goldenen Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Canter Mark
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Mutter-von-Söhnen.«

10
    Nach Trees Worten sog die Menge zischend die Luft ein und wich einen Schritt zurück. Tree kam es vor, als warteten die Frauen im Innenhof auf eine Reaktion der Kaiserin, bevor sie wieder zu atmen wagten.
    Bitte, lass mich mit meiner Ahnung Recht haben, betete Tree im Stillen, bitte. Ihr Herz pochte so laut, dass sie sich fragte, ob die Kaiserin es hören konnte. Yu Lin starrte sie zornentbrannt an, eine Hand am Griff ihres Schwerts.
    »Deine Barbarenwelt unterscheidet sich sehr von der unsrigen«, sagte die Kaiserin. »Wir müssen die Stämme am Fuße des Berges überfallen und eingeborene Männer rauben und sie in unsere Stadt bringen, um uns fortpflanzen zu können. Aber selbst wenn diese Männer vielen unserer Frauen runde Bäuche machen, bringen diese Frauen nur Töchter zur Welt.«
    Nur Töchter. Keine Söhne. Eine Stadt der Frauen. Weibliche Krieger. Tree fiel beinahe um, getroffen von der Wucht ihrer plötzlichen Erkenntnis. Diese verlorene Stadt, von den Indianern Manoa genannt, von den Eroberern El Dorado, von seinen Einwohnern Jou P’u T’uan – ›Gebetsmatte-des-Körpers‹ –, diese Stadt wurde in allen südamerikanischen Überlieferungen als Heimat des großartigsten aller Stämme bezeichnet.
    Tree betrachtete den Innenhof voller orientalischer Frauen – Musikerinnen und Dienerinnen und Soldatinnen –, und sie wusste, dass sie die sagenumwobenen Amazonen waren.
    Seit Pizarro in Peru eingefallen war, waren den Eroberern immer wieder Geschichten über einen großen, aus weiblichen Kriegern bestehenden Inlandsstamm zu Ohren gekommen. Angehörige anderer Stämme behaupteten, ihnen würden regelmäßig Jungen und Männer geraubt, um einer nur aus Frauen bestehenden Gesellschaft die nötige Nachkommenschaft zu sichern.
    Trees Vater hatte ihr von einem spanischen Entdecker namens Francisco de Orellana erzählt, der 1539 auf der Suche nach El Dorado über einen breiten, mächtigen Strom gesegelt war. Auf seiner Expedition begegnete er einer Gruppe hellhäutiger, schwarzhaariger Frauen, die mit tödlichem Geschick Pfeile auf seine Männer schossen. In seinen Aufzeichnungen berichtete der Expeditionsgeistliche, Gaspar de Carvajal, dass die Eingeborenen die Frauen Coniupuyara nannten, und er beschrieb sie als groß und stark, als Frauen, die ›kämpfen konnten wie zehn Indianer‹. Der Geistliche berichtete weiter: »Unter ihnen war eine Frau, deren Pfeile sich eine Elle tief in unsere Zweimaster bohrten, und bald sahen unsere beiden Schiffe wie Stachelschweine aus.«
    Die Spanier hatten bei dem Angriff schwere Verluste erlitten und waren von den Frauen flussabwärts getrieben worden. Don Orellana nannte den Fluss Amazonas, weil die Kriegerinnen ihn an die griechische Amazonen-Legende erinnerten. Er und die anderen Überlebenden segelten bis zum Atlantik, über den größten Fluss der Erde, der heute von der ganzen westlichen Welt Amazonas genannt wird.
    Tree verstand nun, was sich hinter der Legende von der Amazonengesellschaft verbarg. Sie wusste nun, dass ihre Mitglieder tatsächlich ausschließlich Frauen waren, und zwar nicht aus freier Wahl, sondern wegen eines mysteriösen Problems der monosexuellen Empfängnis.
    »Lasst mich in Jou P’u T’uan bleiben«, sagte Tree, zur Kaiserin gewandt. »Nicht als Sklavin, sondern als Frau meines Mannes – dann werde ich Euch viele Söhne schenken.«
    Lautes Stimmengemurmel erhob sich aus der Menge.
    »Dann behauptest du, du seist mir ebenbürtig?«
    »Nein, meine Kaiserin. Ich bin ein wertloser Niemand.«
    »Und trotzdem behauptest du, du könntest Söhne gebären? Selbst hier, in der Stadt-der-Töchter?«
    »Ja, Eure Hoheit. Es ist, wie Ihr sagt: Unsere Welten sind sehr verschieden. Da, wo ich herkomme, können selbst verdienstlose Gemeine männliche Kinder zur Welt bringen.«
    Die Kaiserin trat vor und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über Trees Wange, strich über ihre anmutige Nase und die Rundung ihrer vollen Lippen. Ein edelsteinbesetzter Nagelaufsatz, der wie ein länglicher dünner Fingerhut aussah, schützte den zehn Zentimeter langen Nagel ihres kleinen Fingers, ein Zeichen des höchsten Ranges.
    Tree spürte eine tiefe Traurigkeit in der Berührung.
    »Du glaubst, du kannst eine Mutter-von-Söhnen werden – hier – in Jou P’u T’uan?«, fragte die Kaiserin. »Wie kannst du erwarten, Söhne zu gebären, ohne den schrecklichen Preis zu entrichten?«
    Trees Mund wurde trocken. Worauf habe ich mich hier

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