Das Geheimnis am goldenen Fluß
eingelassen?
»Bitte, verzeiht meine unwürdige Unwissenheit, Kaiserin, denn ich bin tatsächlich eine weit gereiste Fremde.« Sie leckte sich mit trockener, rauer Zunge über ihre Papierlippen. »Ich verstehe nicht, was Ihr mit ›Preis‹ meint.«
Die Kaiserin griff sich an den Hinterkopf und löste ihre Maske. Ein Beben fuhr durch die Menge. Sie nahm die Maske langsam ab. Ihr Gesicht war eine hässliche Kraterlandschaft. Rosafarbenes, klumpiges Narbengewebe war zerlaufen wie geschmolzenes Wachs und verschloss ihr linkes Auge. Beide Ohren fehlten. Was früher ihre Nase gewesen war, war heute nur ein unförmiges Loch über entstellten Lippen.
Tree mied ihren Blick und unterdrückte den aufsteigen den Brechreiz. Was zur Hölle ging hier vor?
»Keine Frau in Jou P’u T’uan kann Söhne gebären, ohne sich den Scherenzähnen zu opfern. Nur der Kaiserin gebührt diese Opferrolle.« Sie richtete einen langen, scharfen Fingernagel auf Trees Gesicht; er berührte fast ihre Nasenspitze. »Willst du etwa die nächste Kaiserin werden?«
Tree kämpfte gegen den körperlichen Drang, sich umzudrehen und zum Ausgang zu rennen. Sekundenlang wusste sie nicht, ob ihre Willenskraft den Kampf mit ihren Adrenalindrüsen gewinnen würde. Schließlich holte sie tief Luft und brachte sich dazu, in das schrecklich entstellte Gesicht zu schauen.
»Euer Opfer ist bemerkenswert und ehrt die lange Reihe Eurer Ahnen«, sagte Tree. »Dennoch ist es wahr, dass auch ich, unbedeutend wie ich bin, Söhne zur Welt bringen kann – selbst hier, Kaiserin, selbst ohne Euer ehrenwertes Opfer zu wiederholen.« Sie streckte Mason eine Hand entgegen, und er trat vor und ergriff sie. Sie fragte sich, wie viel er von dem auf chinesisch geführten Gespräch verstanden hatte. »Er ist mein Mann. Wir haben in jedem Land, das wir besucht haben, viele Söhne gezeugt« – ihr fiel der Titel eines Märchens ein –, »von der Sonne im Osten zum Mond im Westen.« Mit ausgestrecktem Arm beschrieb sie einen weiten Bogen.
Die anwesenden Frauen murmelten laut vor sich hin. Entstellte Lippen erblassten auf einem narbengeröteten Gesicht. »Wie viele?« Ihre Stimme bebte. »Wie viele Söhne hast du geboren?«
Was soll ich sagen?, überlegte Tree. Ich muss mich unentbehrlich machen – eine Zeugungsmaschine für männliche Babys –, aber ich darf sie nicht übertreffen, damit sie nicht ihr Gesicht verliert. Wie viele Söhne hat sie geboren? Ich kann nicht mal sagen, wie alt sie ist.
Tree räusperte sich. »Vier, meine Kaiserin.«
Die Kaiserin wich zurück, als hätte ein Windstoß sie getroffen. Wieder erhob sich lautes Stimmengemurmel unter den Anwesenden, dann trat intensive Stille ein, eine Stille mit beinahe physischer Präsenz.
Verdammt. Tree hielt die Luft an. Sie hat weniger als vier Jungen zur Welt gebracht.
»Dann sage mir, Barbarin, wie viele deiner Söhne haben bis ins Mannesalter überlebt?«
Okay, diesmal sag das Richtige. »Nur einer, meine Kaise rin.«
Die Kaiserin seufzte, und wieder spürte Tree die tiefe Traurigkeit, die die Frau umgab wie Schorf eine Wunde.
»Deine Schönheit ist unversehrt und makellos«, sagte die Kaiserin, »und doch möchtest du in diesem Land der Frauen Söhne gebären. Wie seltsam. Was für ein Ehrgefühl. Und doch höre ich, dass wir eine traurige Tatsache gemein haben – der Tod hat dir alle bis auf einen Sohn geraubt.«
Tree senkte den Blick. »Habt Mitleid mit einer leidgeprüften Mutter«, flüsterte sie.
Ein leuchtend blauer Schmetterling flatterte zwischen ihnen hindurch, und Tree glaubte, in der durchdringenden Stille seine Flügelschläge hören zu können.
»Die Lehren des Tao sind unergründlich –«, sagte die Kaiserin schließlich.
»Ja, meine Kaiserin«, sagte Tree und verbeugte sich. »Die Gesetze des Himmels … unbegreiflich.«
Die Kaiserin setzte wieder ihre Maske auf. Tree seufzte fast vor Erleichterung. Die Kaiserin ließ den Blick durch den Raum schweifen und musterte jedes einzelne Gesicht.
»Ich spüre, dass du einen Stachel des Zweifels in ihre Herzen getrieben hast. Du darfst bleiben, nein, du musst bleiben, damit du und meine Untertanen sehen, dass die Dinge hier anders sind als in der Welt, aus der du kommst. Du wirst herausfinden, dass du in Jou P’u T’uan nur Töchter gebären wirst. Hier gibt es nur eine Mutter-von-Söhnen.«
General Yu Lin nahm die Hand vom Schwert.
»Danke, Hoheit«, sagte Tree. Ihr Kopf drehte sich, und ihre Knie waren weich wie Butter.
»Yu
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