Das Geheimnis am goldenen Fluß
und wenig später waren Tree und Mason in karmesinrote Seidengewänder gehüllt. Trees Gewand zierte ein weißer Tiger, Masons ein grüner Drache.
»Führt die Jungfrauen herein«, befahl die Kaiserin.
Eine Prozession junger Frauen begann, im Innenhof an Mason vorüberzuschreiten. Einige sahen aus wie zwölf oder dreizehn, die meisten jedoch waren Mitte zwanzig oder Anfang dreißig. Die Frauen trugen Seidengewänder in verschiedensten Farben und Stilen: Kimonos, Saris und Sarongs; einige wenige trugen fließende oder drapierte Schnitte, die Tree nicht kannte. Auf jedem der Gewänder starrte ihr irgendwo ein aufgestickter weißer Tiger entgegen, entweder große Albino-Raubkatzen, die sich vom Rücken zur Vorderseite wanden, oder winzige Exemplare von der Größe der Designer-Embleme auf westlicher Strickkleidung. Fantastische Hüte aus Seide und Papier, geformt wie chinesische Schlösser, schmückten die Köpfe der meisten; die anderen trugen stattdessen aufwändige Frisuren oder kunstvolle Perücken.
Einige der Frauen gingen ohne aufzuschauen an Mason vorbei. Andere sahen ihn mit großen Augen an, während wieder andere verführerisch lächelten oder mit den Augen und Mündern provokativ gestikulierten. Nachdem eine Jungfrau an ihm vorbeigegangen war, ging sie auf die andere Seite des Fischteichs und wartete mit den anderen im hinteren Teil des Innenhofs.
Tree war überwältigt von der makellosen Schönheit, die beinahe jede der Frauen auszeichnete. Obwohl die meisten mandelförmige Augen hatten, sahen ihre Gesichtszüge eher polynesisch als chinesisch aus, eine Spiegelung ihrer multi-ethnischen Elternschaft: Die Frauen hatten nicht nur allesamt indianische Eingeborene zum Vater, sondern Tree entsann sich, dass Ko T’ung Jen neben seinen chinesischen Seemännern und Jungfrauen auch Besatzungsmitglieder aus Persien, Indien und Europa an Bord hatte. Obwohl nur wenige der Frauen hellfarbige Augen oder Haare hatten, schienen sie alle Schwestern aus einer einzigen riesigen Südsee-Insel-Familie zu sein.
Tree dachte trocken, dass sie, wäre ihre Lage nicht so gefährlich, ihrem Ego durchaus den Luxus hätte erlauben dürfen, sich von diesem Überschuss an wunderschönen Frauen bedroht zu fühlen. Die beifälligen Blicke, mit denen sie im Laufe der Jahre von Männern bedacht worden war, hatten ihr bestätigt, dass es alles andere als langweilig war, sie mit den Augen zu entkleiden – aber diese Männer waren auch nicht von einer Hundertschaft exotischer Schönheiten umgeben gewesen.
Sie hatte sich dem Forschungsprojekt angeschlossen, um zu versuchen, noch einmal den Vulkan der Leidenschaft zu erwecken, die sie und Mason bis ins Mark hatte erglühen lassen. Die verschiedenen Liebhaber seit ihrer Scheidung hatten ihre Sehnsucht nach ihrem Exmann nur verstärkt und von neuem den Traum einer ewig haltenden Liebe heraufbeschworen, der sich seit ihrer Jugend unauslöschlich in ihre Seele gebrannt hatte. Enttäuscht zu werden oder am Ende gar mit gebrochenem Herzen dazustehen waren Risiken, die sie einzugehen gewillt war, um ihn zurückzugewinnen. Aber nun riskierte sie den Tod, während Mason im Begriff war, sich eine bildschöne asiatische Prinzessin als Zweitfrau zu nehmen.
Die letzte der Jungfrauen, ungefähr sechzehn und kurvenreicher als die meisten ihrer Konkurrentinnen, schritt langsam an Mason vorüber, auf der Rückseite ihres Seidengewands einen weißen Tiger über ihren sinnlich wiegenden Hüften präsentierend. Andere Frauen, die nicht in der Prozession gewesen waren, stellten sich jetzt in das Gedränge hinter dem Teich. Aufgrund ihrer formlosen, ungebleichten Wollgewänder und ihres demütigen Verhaltens nahm Tree an, dass sie die Dienerinnen oder Sklavinnen der Jungfrauen waren. Doch selbst diesen unattraktiv gekleideten Frauen mangelte es nicht an körperlicher Schönheit.
Eine der Dienerinnen stach heraus, und nicht bloß, weil sie einen Kopf größer war als die anderen Frauen, fast so groß wie Tree. Ihre glatten schwarzen Haare reichten ihr bis zur Taille, und es glänzte so sehr, dass sich darin das Tageslicht verfing und sich blau schimmernd reflektierte. Die vergossene Tinte ihres Haars umrahmte ein eckiges, fein geschnittenes Gesicht, das von tiefblauen orientalischen Augen dominiert wurde. Tree fand, dass dies die schönste Frau war, die sie je gesehen hatte. Über das blütenbedeckte Wasser hinweg trafen sich für einen Moment ihre Blicke, dann schlug die Dienerin die Augen nieder.
Die
Weitere Kostenlose Bücher