Das Geheimnis am goldenen Fluß
versammelten Jungfrauen starrten zu Mason hinüber und warteten auf seine Entscheidung.
»Hilf mir, Tree.«
»Geht nicht. Das musst du allein entscheiden.«
»Wenn sie es herausfindet, stecken wir in bösen Schwierigkeiten.«
»Wir dürfen nicht zulassen, dass sie es herausfindet.«
»Sie warten auf deine Entscheidung, Barbar«, sagte die Kaiserin.
»Mason«, sagte Tree, »wähle eine aus.«
Jemand aus dem Frauenpulk schubste die blauäugige Dienerin; sie verlor das Gleichgewicht und stolperte mit einem Bein in den Teich. Die Menge brach in Gelächter aus. Die blauäugige Frau zog das Bein aus dem Wasser und senkte demütig den Kopf, so tief, dass ihre Haare nach vorne fielen und ihr Gesicht verdeckten.
»Frag sie, ob ich mir irgendeine aussuchen kann.«
»Darum geht es doch.«
»Frag sie.«
Tree fragte.
»Ja, jede von ihnen kann deine Frau sein«, antwortete die Kaiserin.
»Ich nehme sie«, sagte Mason und deutete auf die blauäugige Dienerin.
Das Gelächter erstarb, und Stille trat ein.
»Ich habe keine Geduld für Scherze«, sagte die Kaiserin.
»Ihr gefällt deine Entscheidung nicht«, sagte Tree.
»Sie sagte, ich hätte freie Wahl. Ich wähle sie.«
»Mein Mann wünscht, die blauäugige Dienerin als Zweite Frau zu nehmen«, sagte Tree. Die Spannung im Innenhof zog sich zusammen, als würde der Sauerstoff aus der Luft gepresst. Tree schluckte trocken.
Es schien Minuten zu dauern, bis die Kaiserin die Stille brach. »Bringt die Braut zu ihrem Ehemann.«
Mehrere Frauen im Vordergrund des Pulks versetzten der Dienerin einen gemeinen Stoß, so dass sie rückwärts in den Teich fiel. Sie kauerte im Wasser und sah ängstlich um sich. Ihre Blicke schossen zwischen Mason und den Frauen hin und her.
Mason ging zum Rand des Teichs und reichte ihr die Hand. »Mach dir keine Gedanken über diese dummen Dinger«, sagte er auf Englisch. »Komm her. Ich werde dir nicht wehtun.« Sie watete zu seiner Seite des Teichs, und er half ihr aus dem Wasser. Sie hielt den Kopf gesenkt, den Körper gebückt. Mason packte ihre Schultern und richtete ihren Oberkörper auf. Sie stand nun Kopf an Kopf neben ihm, ihre triefenden Haare auf der Brust klebend wie ein schwarzer Wasserfall in einem chinesischen Landschaftsgemälde.
Tree ging hinüber und legte der Frau eine Hand auf die Schulter. »Wie heißt du?«
»Hsiang K’un-Chien«, sagte die Dienerin, Trees Blick meidend.
»Wir sind Fremde in deiner Welt«, sagte Tree, »aber wir möchten dir nichts Böses.« Sie lächelte gütig, dann trafen sich ihre Blicke. Plötzlich fiel Tree das blau gefärbte Kirchenglas des wallenden Gewands der heiligen Maria ein – das Altarfenster, Erste Episkopalkirche, Indian Mound Beach. Genau.
»Ihr Name bedeutet ›Parfüm des Erdenhimmels‹«, sagte sie zu Mason.
»Verstehe.« Er wandte sich zur Kaiserin um. »Ich ernenne Hsiang K’un-Chien hiermit zu meiner zweiten Ehefrau«, sagte er auf Chinesisch, jedes Wort sorgfältig artikulierend. »K’un-Chien wird uns mit den Sitten und Gepflogenheiten in Jou P’u T’uan vertraut machen, Eure Hoheit.«
Die grimmig blickende Maske nickte langsam. »So sei es – deinem selbst gewählten Schicksal gemäß«, sagte sie. »Aber wenn in drei Monaten keine deiner beiden Ehefrauen ein Kind in sich trägt, Barbar, werden beide bestraft werden – und dich werde ich persönlich zum Eunuchen machen.« Sie fuhr herum und schritt aus dem Innenhof, ihre Entourage hinter sich her ziehend wie eine bunte Rauchfahne.
»Was war das, von wegen ein Kind in drei Monaten?«, fragte er Tree. »Dieser Dialekt ist so verdammt archaisch …«
»Sie sagte, wir stecken tief in der Scheiße.«
»Dachte ich mir. Vom Regen in die Traufe …« Er seufzte. »Was macht deine Hand?«
»Angst ist ein wirksames Schmerzmittel. Ich habe die Hand für eine Weile vergessen.« Sie lehnte sich erschöpft an ihn. »Aber jetzt fühle ich mich richtig schwach, Mason.«
Er legte Trees Arm um seine Schultern und schlang seinerseits einen Arm stützend um ihren Rücken. Er wandte sich zu K’un-Chien. »Kannst du uns bitte sofort zu einem Doktor bringen? Erste Frau hat eine schlimme Wunde an der Hand.«
»Ehemann, ich selbst bin Doktor.« K’un-Chien legte in Brusthöhe die Handflächen aneinander und verneigte sich. Schwarzes Haar ergoss sich ins Gras wie ein seidener Wasserfall.
»Wir haben Glück«, sagte Mason und lächelte Tree aufmunternd an.
Tree schätzte ihr Glück nicht allzu hoch ein. Sie hatten sich
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