Das Geheimnis am goldenen Fluß
bringen. Würde sie die Verletzungen in ihrem Gesicht heilen, wäre das Opfer nichtig geworden, und sie könnte keine männlichen Kinder gebären.«
»Vergib mir nochmals«, sagte Mason, »aber wie geht dieses Opferritual vonstatten? Was ist mit ihr geschehen, dass sie so aussieht?«
»Ein Fluss fließt durch eine Zeremonienkammer im Tempel-der-Gebetsmatte –«
»Der Tempel, in dem wir vorhin waren?«
»Ja. In dem Fluss leben die Scherenzähne.«
»Scherenzähne?«, fragte Mason. »Wie sehen sie aus?«
»Es sind Fische. Mit glänzenden schwarzen Schuppen, hervorstehendem Unterkiefer und Zähnen scharf wie Dolche.«
»Piranhas«, sagte Mason. »Tree, sie redet von Piranhas. Klar – das Orinokobecken ist der einzige Ort auf der Welt, wo man sie findet. Das ist ihr Lebensraum.«
Trees Magen zog sich zusammen.
»Wie groß sind diese Fische?«, fragte Mason.
K’un-Chien breitete die Hände aus und zeigte eine Länge von einem halben Meter. »Fett und schwer.«
»Meine Güte«, sagte Mason. »Serrasalmus nattereri – die tödlichste aller Piranha-Gattungen. Ich hätte darauf kommen müssen, als sie ›Scherenzähne‹ sagte – ihre gezackten Zähne greifen so dicht ineinander, dass die Wawajeros sie als Scheren benutzen.«
»Zum Beginn ihrer Regentschaft muss die Kaiserin am ersten Tag des neuen Mondes ein Opferritual durchführen«, sagte K’un-Chien. »Sie wird an einem goldenen Seidenstrick von einem Ufer zum anderen gezogen. Die Fische wühlen das Wasser auf. Ihr Körper windet sich unter den Angriffen. Das Wasser ist schaumig vom Blut.«
»Sehr grausam«, murmelte Mason.
»Aber nur ihr Gesicht ist verunstaltet«, sagte Tree. »Ihre Hände und das, was ich von ihren Armen erkennen konnte, sehen normal aus.«
»Der Rest ihres Körpers wird zum Schutz in dickes Leder gewickelt. Nur ihr Gesicht liegt frei.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Mason zu Tree. »Es ist das konfuzianische Gedankenmodell des Gesichtsverlustes – in physische Form umgesetzt.«
Tree nickte. »Es geht darum, Schande auf sich zu nehmen, um für die ganze Gruppe zu büßen – in diesem Fall für die Mütter, die keine Söhne gebären können.«
»Die Mutter-von-Söhnen muss für ihre Kraft bezahlen, indem sie ihre Schönheit verwirkt«, sagte K’un-Chien.
»Sie war einmal schön?«, fragte Tree.
»O ja, sehr sogar. Es heißt, dass sie schon als kleines Mädchen die erste Anwärterin auf den Kaisertitel gewesen wäre. Nur die schönste Frau in Jou P’u T’uan kann unsere Herrscherin werden.«
»Das ist verdammt pervers«, sagte Mason.
Tree seufzte. »Beschwichtigung. Die Götter milde stimmen. ›Friss die Jungfrau, o Berg des Donners, aber friss nicht uns.‹ Die eine oder andere Version davon – entweder Menschen- oder Tieropfer – findet sich in der gesamten Menschheitsgeschichte, in jedem Kulturkreis.«
Mason nickte. »Wie ich sagte – verdammt pervers.«
»Alle zwanzig Jahre wird eine neue Kaiserin gewählt«, erklärte K’un-Chien. »Die nächste Wahl findet in drei Monden statt, am Morgen der Tagundnachtgleiche im Herbst.«
Tree schauderte, als sie sich ausmalte, wie entsetzt die jungen Frauen gewesen sein mussten, die Kaiserin geworden waren; durch grausame Verstümmelung waren sie von der äußerlich attraktivsten zur äußerlich abstoßendsten Frau in der Stadt geworden.
Ihre Augen begutachteten K’un-Chiens makellose Züge, wie ein Kunsthändler eine edle Skulptur begutachten würde. Sie fragte sich, welchen Rang die junge Frau auf der hiesigen Schönheitsskala einnahm. Gibt es hier überhaupt Frauen, die noch schöner sind? Mein Gott, was, wenn nicht …?
»Die Kaiserin«, sagte Tree. »Selbst ihr langes Haar ist nur noch eine Perücke.«
»Ich habe mich oft gefragt, wie sie aussah, als sie in meinem Alter war«, sagte K’un-Chien. »Ich sah ihr Gesicht nie ohne Narben. Es heißt, ich sähe ihr sehr ähnlich.«
Tree und Mason sprachen gleichzeitig: »Was hast du gesagt?«
»Die Kaiserin ist meine Mutter.«
14
Die Scheiben in den hohen Schlafzimmerfenstern waren aus durchscheinendem Seidenpapier, das kunstfertig auf die Kirschbaumholz-Gatter geklebt war. Die Fensterrahmen selbst bildeten eine Menagerie von Formen: Vögel, Fische, Blumen, Halbmonde und Sterne. Der durch das Seidenpapier fallende Mondschein tauchte den Raum in silbrig weißes Licht, hier und da unterbrochen von fahlen Schattengebilden.
Draußen läutete eine Glocke, und eine andere antwortete in der Ferne. Zikaden
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