Das Geheimnis am goldenen Fluß
war ich verstoßen und allein«, hatte K’un-Chien gesagt, »nun wünsche ich zu Füßen meiner Wohltäter zu schlafen, dort, wo ich hingehöre.« Abgesehen von einem kurzen Versuch hatten Tree und Mason es nicht übers Herz gebracht, es ihr auszureden.
K’un-Chien konnte sich nun in einem luxuriös ausgestatteten Badehaus entspannen. Doch stattdessen zog sie es vor, hinter der Stadtmauer alleine zu baden, in kleinen Felsbecken unweit der heißen Quellen, die die Bäder der Stadt speisten. K’un-Chien war extrem zurückhaltend, was ihre eigene Nacktheit betraf. Tree fand dies seltsam, denn es schien nicht zu der offenen Unschuld in ihren Augen und ihrem Lächeln zu passen, zu ihrer Körpersprache, zu ihrer Liebe für die Welt. Zudem war ihre Schüchternheit das genaue Gegenteil von dem, was diese Gesellschaft vorlebte.
In den zwei Wochen seit ihrer Ankunft hatte Tree am helllichten Tag Frauen gesehen, die auf öffentlichen Plätzen splitternackt in beheizten Bassins badeten; einige hatten sich sogar geküsst und ungehemmt gestreichelt, während andere Frauen auf den Gehsteigen höchstens einen nonchalanten Blick für die Ausschweifungen übrig hatten. Es war, als wäre für die Einwohner Jou P’u T’uans der Anblick erotischer Handlungen ebenso natürlich wie der eines Schmetterlings, der im Garten Nektar aus einer Orchidee trinkt.
Aber K’un-Chien war anders. Sie schien sich ihres Körpers noch mehr zu schämen als einige der pubertierenden Mädchen, an die sich Tree aus ihrer Pfadfindergruppe erinnerte – Mädchen wie Tammy Smith, die sich aufgeführt hatte, als wäre ihre Periode ein einmal im Monat auftretender Leukämieanfall.
Andererseits beschränkte sich K’un-Chiens Schüchternheit allein auf ihren eigenen Körper. Eines Morgens hatte Tree im Türrahmen gestanden und heimlich beobachtet, wie K’un-Chien auf Masons nackten Körper starrte – er schlief noch und hatte die Bettdecke beiseite geworfen, und die Spielzeuglokomotive stand voll unter Dampf. K’un-Chien hatte völlig entspannt dagestanden, die Hände in den Hüften, das Gesicht strahlend vor Bewunderung. Nicht wie ein Schulmädchen, das im Louvre verstohlene Blicke auf David wirft und seinen großen Marmorschwanz angafft. K’un-Chien hatte Masons Körper in aller Ruhe in Augenschein genommen, hatte sich die Formen und Erhebungen eingeprägt, wie sich ein Kartenzeichner neues Territorium einprägt.
Unterdessen, während sie im Türrahmen lehnte, hatte Tree im Bauch den Stachel der Eifersucht gespürt. Dann fragte sie sich, wie es wohl sein müsste, eine erwachsene Frau von fast achtzehn Jahren zu sein und noch nie das Geschlechtsorgan eines Mannes gesehen zu haben. Nein, mehr noch als bloß sein Geschlechtsorgan. Den ganzen Mann. Stirn und stoppeliges Kinn, breite Schultern und behaarte Brust, muskulöser Bauch, praller Schwanz, kräftige Schenkel und Waden, sehnige Füße und Zehen; in einem Wort: männlich. Mason durch K’un-Chiens Augen zu sehen verursachte eine warme Nässe zwischen Trees Schenkeln. Sie sog den Atem ein, und K’un-Chien blickte auf; der Zauber war gebrochen.
Mason erwachte, sah die Zuschauer und griff nach der Satindecke. »Was zum Teufel soll das sein – die Morgen-Peep-Show?«
Doch K’un-Chien reagierte nicht so, als wäre sie bei etwas Unanständigem ertappt worden. Sie lächelte bloß – einfach so –, ohne eine Spur von Scham.
All das weckte in Tree den Verdacht, dass sich hinter K’un-Chiens extremer Schüchternheit – so weit es ihren eigenen Körper betraf – ein schreckliches Geheimnis ver barg: Möglicherweise hat sie dieselben entstellenden Narben wie ihre Mutter – aber am Körper, nicht im Gesicht. Die Vorstellung verursachte Tree Übelkeit.
Das spitze Kreischen eines Affen draußen im Mondschein brachte Tree in die Gegenwart zurück. Mason rollte sich auf den Rücken und schien in Gedanken verloren zu sein. Sie starrte an die Decke, und die Sterne und Swastikas begannen zu verschwimmen und umherzuschweben, während sie sich wieder ihren Grübeleien hingab.
Tree brütete über die durch den Ling-Chih hervorgerufene Vision ihrer möglichen Zukunft mit K’un-Chien. Diese magnetisierenden blauen Augen hatten sie mit einer erotischen Kraft angezogen, die bisher nur Mason auf sie ausgeübt hatte. Sich diesem Gefühl zu widersetzen wäre wie gegen eine reißende Strömung anzuschwimmen. Doch von der kurzen Vision abgesehen, empfand sie kein sexuelles Verlangen nach K’un-Chien.
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