Das Geheimnis am goldenen Fluß
Ming-Dynastie untergegangen.
Tree vergegenwärtigte sich, was sie über das China jener Epoche wusste. Das Wort Ming bestand aus zwei Schriftzeichen, dem für Mond und dem für Sonne. Ming, letzte der chinesischen Dynastien, war die strahlendste Periode in der Geschichte des Reichs der Mitte, eine Zeit, als die Kultur blühte und China in den Bereichen Medizin, Seekunde, Kunst und Technik Europa um Jahrhunderte voraus war.
Schon bevor die Ming-Kaiser das Land regierten, hatten die Chinesen Glas, Porzellan, Tinte, Papier, Druckverfahren, Seidenfabrikation, Färbemittel, Akupunktur, Schießpulver, Uhren, Sternenkarten und magnetische Kompasse eingeführt, während Europa noch im tiefsten Mittelalter dahinschlummerte. Und das geometrische Prinzip des rechtwinkligen Dreiecks war von den Chinesen entdeckt worden, lange bevor Pythagoras zwei Dutzend Ochsen schlachtete, um Zeus dafür zu danken, ihm die Augen geöffnet zu haben.
Dann, im späten dreizehnten Jahrhundert, als die Ming-Kaiser die Mongolen hinter die Chinesische Mauer zurücktrieben und sich mit Peking eine neue Hauptstadt gaben, erreichten die chinesischen Künste und Wissenschaften ihren Höhepunkt, und Zheng He unternahm die erste seiner sieben Entdeckungsreisen.
Nach der Reife beginnt die Fäulnis, sinnierte Tree. Unmittel bar nach Admiral Hes letzter Reise begann Chinas eigene dunkle Periode der Isolation und des Schlummers. Wer es wagte, eine ozeantaugliche Dschunke zu bauen, wurde fortan mit dem Tode bestraft. Tree nahm an, dass Kapitän Ko T’ung Jen die nahende politische Isolation und den kulturellen Verfall vorhersah und sich mit Männern und Frauen, die seine Ideale teilten, auf eine gut geplante, geheime Mission begab, um in einer neuen Welt ein Utopia zu gründen. Diese blühende Stadt war sein Vermächtnis.
Pärchen schlenderten Arm in Arm an ihnen vorbei, Tigerfrauen mit Drachenfrauen, Letztere mit angeklebten Bärten. Einige umarmten und küssten sich. Tree fand es noch immer äußerst befremdlich, dass es in Jou P’u T’uan keine Männer gab. Alle Rollen, die sie automatisch mit Männern zu assoziieren gelernt hatte, wurden hier von Frauen übernommen: Soldaten, Jäger, Schlachter, Wachen, Steinmetze, Bauarbeiter.
Sie lächelte, als eine Frau aus der Oberschicht mit zwei Dienerinnen vorbeispazierte; die Frau trug den schönsten Seidenkimono, den Tree je gesehen hatte: dunkelrot und mit aufgestickten weißen Chrysanthemen besetzt, die mit goldenen Seidenfäden durchwoben waren. Doch selbst in ihren sackförmigen schwarzen Baumwollkutten waren die Sklavinnen ebenso schön wie ihre Herrin; eine der beiden hatte hellgraue asiatische Augen.
Tree musste sich zum dritten Mal an diesem Morgen daran erinnern, dass ihr Leben in realer Gefahr war und dass die Zeit langsam knapp wurde; denn wenn sie sich nicht zwang, ihre Aufmerksamkeit dieser Bedrohung zuzuwenden, ließ sie sich nur allzu leicht von der Pracht und den Geheimnissen dieser Stadt gefangen nehmen. Sie blickte auf das Panorama hoch aufragender Pagoden mit den schimmernden Messingglocken in jeder Ecke der oktagonalen Dächer, auf goldbeschichtete Kuppeln und silbern schimmernde Tempelanlagen; auf den tosenden Wasserfall, der wie ein endloser, glitzernder Perlenstrom über die roten Sandsteinklippen schoss. Berauschend. An jedem neuen Tag brachte eine neue Erfahrung oder Entdeckung sie in Versuchung, die drohende Gefahr zu vergessen und sich ganz der Magie der Stadt hinzugeben.
Ling-Chih – der Pilz der Unsterblichkeit –, ein perfektes Beispiel für etwas aus einem orientalischen Märchen. Sie blickte auf den zwei Zentimeter langen Stummel ihres neuen Daumens hinunter. Beide Gelenke waren bereits voll entwickelt, und sie konnte schon die vage Andeutung eines Daumennagels erkennen. Heute Abend würde sie K’un-Chien bitten, sie mit einer Kaltschlaf-Ameise zu behandeln, um sie von dem konstanten Juckreiz des rasend schnell heilenden Gewebes zu erlösen.
Tree sah zu K’un-Chien zurück, die Schönheit in der groben Baumwollkutte. Rätsel umschleierten Zweite Frau wie Dunstschwaden den Wolkenwald. Tree wusste, dass sie keinesfalls die beunruhigende Vision vergessen durfte und die Erfordernis, ihr Herz vor dieser exotischen Frau abzuschirmen. Sie erlaubte K’un-Chien nicht, sie mit ihrem Namen anzusprechen, wie Mason es tat. Tree war Erste Frau. Ihre Beziehung musste formell bleiben.
Ihre Eifersucht war im Laufe der Zeit nicht abgeflaut, sondern in gleichem Maße gewachsen, wie
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